Es scheint eine schier endlose Liste an Themen zu geben, bei denen die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keinen gemeinsamen Standpunkt finden: Wie gehen sie mit Migration um? Nehmen sie für ambitionierte Projekte gemeinsam Schulden auf? Ist Atomenergie grün oder nicht? Und so weiter und so fort.
Doch seitdem Russland im Februar vergangenen Jahres seinen großflächigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, zeigt die Union mit ihrer entschlossenen Unterstützung Kiews eine seltene – und willkommene – Einigkeit.
In dieser Woche berichtete das Politmagazin „Politico“ allerdings unter Berufung auf europäische Beamte und Diplomaten aus EU-Staaten, dass Estland in Brüssel Stirnrunzeln ausgelöst habe. Der kleine baltische Staat hatte der Ukraine militärische Ausrüstung geliefert und fordert nun eine Erstattung von Kosten für neue Militärausrüstung, die über dem tatsächlichen Wert der Lieferung liegt. Solche Erstattungen sind im Rahmen des entsprechenden Geldtopfes geregelt, der Europäische Friedensfazilität (EFF). Doch Estland scheint diesen Topf in größerem Maße in Anspruch zu nehmen als andere Mitgliedsstaaten, wie „Politico“ mit der Veröffentlichung zugespielter Dokumente belegt.
Estland: Wir halten uns an die Regeln
Das estnische Verteidigungsministerium schoss sofort mit einer online veröffentlichten Stellungnahme zurück: „Estland befolgt die Regeln der EFF bei der Frage, ob Unterstützung für die Ukraine mit dem Buchwert oder mit dem Wiederbeschaffungswert einzustufen ist.“ Tallin beantrage nur für solche Lieferungen eine Erstattung des Neuwerts, bei denen die Produktion eingestellt worden sei und die Bestände wieder aufgestockt werden müssten, um die Verteidigungsfähigkeit zu erhalten.
Die Stellungnahme schließt im scharfen Ton: „Die Unterstützung der Ukraine ist kein Wettbewerb und ihr Hauptziel hat nichts mit einem EU-Erstattungssystem zu tun. Es steht viel mehr auf dem Spiel – die Abwehr eines Angriffs in Europa im 21. Jahrhundert und die Bewahrung unserer Sicherheitsarchitektur.“
In einem deutlichen Zeichen der Solidarität sprach die Ukraine Tallin erneut ihren Dank aus. „Das Vorbild Estlands bei den Investitionen in die Sicherheit Europas ist inspirierend. Seine Militärhilfe für die Ukraine übersteigt bereits ein Prozent des BIPs (Bruttoinlandsproduktes) des Landes“, twitterte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow. „Alles, was wir von unseren (estnischen) Freunden erhalten, von Javelin-Panzerfäusten bis zu Haubitzen, hilft der (ukrainischen) Armee dabei, die Ukraine und ganz Europa zu verteidigen.“
Estland trat gemeinsam mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken im Jahr 2004 der Europäischen Union und dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO bei und zählt mit seiner Bevölkerung von nur 1,4 Millionen Menschen zu den glühendsten Unterstützern der Ukraine.
Dem Finanztopf droht das Geld auszugehen
Was ist also das Problem, wenn Estland sich an die Regeln gehalten hat und die Ukraine zufrieden ist?
Es bedeutet, dass Tallin die Gelegenheit nutzt, seine Bestände mit EU-Mitteln statt mit eigenem Geld zu modernisieren, erklärt Luigi Scazzieri, Analyst beim Centre for European Reform, gegenüber der DW. Andere Länder täten dies nicht. „Einige Länder sind deutlich irritiert über die Art, wie Estland die Fazilität nutzt“, sagt Scazzieri. „Hauptsächlich weil der Fazilität das Geld extrem schnell ausgehen würde, wenn jeder darüber das Geld für neue Ausrüstung erstattet bekommen wollte.“
Die EFF ist ein Finanzierungsinstrument außerhalb des EU-Haushaltes und Teil der Gemeinsamen Außen‑ und Sicherheitspolitik. Nachdem seine Mittel aufgrund der Ausgaben für die Ukraine mehrfach erhöht wurden, verfügt es über etwa acht Milliarden Euro.
Im vergangenen Jahr einigten sich die 27 EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen einer grundlegenden Neuausrichtung ihrer Verteidigungspolitik darauf, Kiew bei der Aufrüstung zu unterstützen, indem Mitgliedstaaten einen Teil der Militärhilfe, die sie aus eigenen Beständen leisten, erstattet bekommen. Eigentlich untersagen die Vorschriften der EU den Kauf von Waffen mit gemeinsamen Mitteln, doch der Ausbruch eines Krieges an den Grenzen des Blocks führte zu einem Tabubruch. Die EFF wurde aktiviert, um eine Behelfslösung zu schaffen.
Eindeutige Regeln sind gefragt
Die Regeln für die Erstattungen sind nicht eindeutig genug, meint Scazzieri. „Das könnte den politischen Konsens unterminieren, der über dieses sehr wichtige Instrument besteht.“ Die Transparenz sei in Gefahr, wenn solche Ausgaben nicht im Haupthaushalt berücksichtigt würden.
Öffentlich preisen EU-Beamte und Regierungen die EFF oft als Beispiel für die einheitliche, unbeirrbare Unterstützung der Ukraine bei seiner Verteidigung gegen Russland. „Doch hinter den Kulissen gab es schon immer Spannungen. Sogar sehr öffentliche, wenn wir uns an die Auseinandersetzung über die Lieferung von Panzern erinnern“, erklärt Scazzieri mit Blick auf die Kritik, die insbesondere die östlichen EU-Länder an Deutschland übten, weil es Anfang dieses Jahres zunächst zögerte, Kiew mit modernen Panzern zu beliefern.
Doch dieser Streit könnte mehr Schaden verursachen als frühere Konflikte, falls darüber der EFF-Konsens zerbricht. Denn das hätte konkrete Folgen für die Ukraine, so Scazzieri. Wenn die EFF als Finanzierungsinstrument weiter funktionieren soll, müsse sie wieder aufgestockt werden, insbesondere weil die EU-Staaten sich jüngst darauf geeinigt hätten, große Mengen Munition an die Ukraine zu liefern.