Zum ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sieht der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz noch keine Perspektive für einen baldigen Frieden. Es sei eine seiner „größten Sorgen, dass das jetzt ein sehr langer, sich hinziehender Krieg wird mit unglaublichen Zerstörungen und Verlusten“, sagte Scholz im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF). „Der Moment, der eine Friedensperspektive eröffnet, der muss erst entstehen.“
Die Waffen, die die ukrainischen Streitkräfte jetzt benötigten, würden ihnen zur Verfügung gestellt – etwa die Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart. Die Lieferung westlicher Kampfjets lehnte Scholz abermals ab: „Die Debatte macht keinen Sinn.“ Kritik, er handele bei der Unterstützung der Ukraine zu zögerlich, wies der Kanzler entschieden zurück. „Deutschland muss sich an dieser Stelle von niemandem Vorwürfe anhören“, betonte der Regierungschef und verwies etwa auf Luftabwehrsysteme. „Das, was Deutschland tut, ist oft als erstes geliefert worden, ist oft als einziges geliefert worden.“
Ziel müsse es sein, Russland deutlich zu machen, „dass es keinen Sinn hat, diesen falschen, gescheiterten Weg weiterzugehen, mit immer mehr Waffen, immer mehr Soldaten“, so Scholz. Gleichzeitig werde er aber „alles dafür tun, dass dieser Krieg sich nicht auswächst zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO.“
Den Aufruf der Feministin Alice Schwarzer und der Politikerin Sahra Wagenknecht (Die Linke) zu Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg lehnte der Kanzler ab: „Ich teile die Überzeugung dieses Aufrufs nicht.“ Es reiche nicht zu sagen, es müsse jetzt Verhandlungen geben. Dies führe nicht weiter. Man müsse verstehen, „dass der russische Präsident gegenwärtig nur eine Form von Verhandlungen akzeptiert, nämlich dass irgendjemand bedingungslos kapituliert und er alle seine Ziele durchsetzt“.
Selenskyj: Kein Kompromiss mit Putin möglich
Zum Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine hat deren Präsident Wolodymyr Selenskyj jegliche Kompromisse mit Kremlchef Wladimir Putin kategorisch abgelehnt. Schon ein Dialog mit Putin sei aus seiner Sicht nicht möglich, da es schlicht kein Vertrauen gebe, sagte Selenskyj in einem BBC-Interview. Man könne „keine Vereinbarungen mit denen treffen, die nicht bereit sind, sie einzuhalten“. Ziel der Ukraine sei, alle von Russland besetzten Gebiete zurückzuerlangen, bekräftigte Selenskyj. Wenn man Russland erlauben würde, einen Teil der besetzten Gebiete zu behalten, würde dies nur zu neuen Gebietsforderungen oder Eroberungsfeldzügen führen.
Ausdrücklich begrüßte Selenskyj die Resolution der UN-Vollversammlung zum Rückzug russischer Truppen. Das Ergebnis der Abstimmung in New York sei „ein starkes Zeugnis der Solidarität der Weltgemeinschaft mit dem Volk der Ukraine vor dem Hintergrund des Jahrestags der umfassenden Aggression durch Russland“, twitterte Selenskyj. Das Votum sei ein „kraftvoller Ausdruck“ der weltweiten Unterstützung für die Friedensformel der Ukraine – die unter anderem den vollständigen Abzug Russlands aus der Ukraine vorsieht sowie Reparationszahlungen und die juristische Verfolgung der für den Angriffskrieg Verantwortlichen in Moskau. Selenskyj dankte zugleich jenen 141 Ländern, die die UN-Resolution unterstützt haben, mit der ein „umfassender, gerechter und nachhaltiger Frieden“ in der Ukraine möglich sei.
Ukraine meldet hohe russische Verluste
Zum Jahrestag des Invasion berichtet die Militärführung in Kiew von hohen Verlusten der russischen Streitkräfte. Seit Kriegsbeginn am 24. Februar vergangenen Jahres seien 145.850 russische Soldaten getötet worden, heißt es in der Aufzählung (Stand Donnerstag). In der täglich von ukrainischer Seite aktualisierten Liste der Verluste der russischen Angreifer wurden auch 299 Kampfflugzeuge, 287 Helikopter sowie 3350 zerstörte oder erbeutete Kampfpanzer angeführt. Daneben seien 2352 russische Artilleriesysteme zerstört worden. Weder diese Angaben noch die zu den getöteten Soldaten können unabhängig überprüft werden.
Amerikanische Schätzungen gehen davon aus, dass in der Ukraine bisher rund 200.000 Russen entweder getötet oder verwundet wurden. Umgekehrt sprach die Führung in Moskau Ende 2022 von über 60.000 getöteten ukrainischen Soldaten, während in Kiew von etwa 13.000 die Rede war.
Sunak: „Vorteil auf dem Schlachtfeld“
Ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Kriegs hat der britische Premierminister Rishi Sunak seine Forderung nach Lieferung von Waffen mit größerer Reichweite erneuert. Ein solcher Schritt würde der Ukraine helfen, kritische zivile Infrastruktur zu schützen, erklärte Sunaks Büro. Außerdem könnten die ukrainischen Streitkräfte so leichter die russischen Angreifer zurückzudrängen und eigenes Territorium zurückerobern. „Damit die Ukraine diesen Krieg gewinnt – und es früher dazu kommt -, muss sie sich einen entscheidenden Vorteil auf dem Schlachtfeld verschaffen“, wird Sunak in der Mitteilung zitiert.
Für diesen Freitag rief die britische Regierung zu einer landesweiten Schweigeminute auf, um den Mut der Ukrainer zu würdigen und die Toten zu ehren. Sunak will auch ukrainische Soldaten in der Downing Street empfangen.
IAEA: Viele AKW-Zwischenfälle seit Kriegsbeginn
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine vor einem Jahr sind die Atomkraftanlagen des Landes von mehr als 40 Zwischenfällen betroffen gewesen. Das geht aus einem Bericht hervor, den die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) in Wien veröffentlichte. „Wir haben Glück gehabt, dass noch kein Atomunfall passiert ist, und wir müssen alles dafür tun, um solch ein Risiko zu minimieren“, schrieb IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi.
Zu Kriegsbeginn hatten russische Truppen für einige Wochen das ehemalige AKW Tschernobyl eingenommen, wo seit dem verheerenden Atomunfall 1986 strahlender Abfall gelagert wird. Anfang März 2022 wurde das AKW Saporischschja besetzt, das größte Atomkraftwerk Europas. Es steht bis heute unter russischer Kontrolle. Grossi verhandelt seit Monaten mit Kiew und Moskau über eine Waffenstillstandszone um Saporischschja herum – bisher ohne Erfolg. Außerdem fielen in den vergangenen zwölf Monaten kriegsbedingt vielfach Stromleitungen aus, die Kühlsysteme der ukrainischen Atomkraftwerke versorgen.
Moskau warnt vor Angriff auf Transnistrien
Die russische Militärführung hat der Ukraine erneut vorgeworfen, einen Angriff auf das von der Nachbarrepublik Moldau abtrünnige Gebiet Transnistrien vorzubereiten. Damit wolle Kiew einem angeblichen Vorstoß russischer Einheiten aus Transnistrien zuvorkommen, berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf namentlich nicht genannte Quellen im Verteidigungsministerium in Moskau.
In Transnistrien an der Grenze zur Ukraine sind seit den 1990er-Jahren russische Soldaten stationiert, die dort als sogenannte Friedenstruppen auftreten. Die Ex-Sowjetrepublik Moldau gehört nicht zur NATO, sie ist politisch zwischen proeuropäischen und prorussischen Kräften gespalten. Transnistrien hat einen starken russischen Bevölkerungsanteil.
Weißes Haus kündigt neue Russland-Sanktionen an
Die USA wollen am ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine neue „umfassende“ Sanktionen gegen Russland offiziell bekanntgeben. Dies kündigte die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, in Washington an. Die neuen Strafmaßnahmen zielten auf russische „Schlüsselsektoren“, die Einnahmen für den Krieg von Präsident Wladimir Putin generierten. Ziele seien unter anderem Banken und andere Institutionen, die bei der Umgehung der bisherigen Sanktionen mitwirkten, erläuterte Jean-Pierre. Auch richteten sich die neuen Sanktionen gegen die russische Rüstungsbranche.
„Viel Widersprüchliches“ bei Nord-Stream-Sabotage
Bundeskanzler Olaf Scholz hat vor voreiligen Schlüssen zu den Hintergründen der Explosionen an den von Russland nach Deutschland verlegten Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2 gewarnt. „Natürlich wollen wir dringend erfahren, wer dafür verantwortlich war“, sagte Scholz der „Bild“-Zeitung. Er betonte aber: „Gerüchte gibt es viele, auch viel Widersprüchliches. Was am Ende zählt, sind Fakten.“
Russland beschuldigt die Vereinigten Staaten, die Explosionen herbeigeführt zu haben. Zuletzt hatte auch der US-Journalist Seymour Hersh unter Berufung auf eine einzelne anonyme Quelle geschrieben, amerikanische Marinetaucher seien für die Sabotageaktion Ende September in der Nähe der dänischen Ostsee-Insel Bornholm verantwortlich. Das Weiße Haus wies den Bericht als Erfindung zurück.