„Flüchtlinge sind die größte Gefahr für unsere Wirtschaft, Kultur, öffentliche Ordnung, innere und äußere Sicherheit. Jetzt kommt die Zeit, dass sie nach Hause geschickt werden“, so schrieb der Präsidentschaftskandidat des ultranationalistischen und rechtspopulistischen ATA-Bündnisses Sinan Ogan vergangene Woche auf Twitter.
Wer glaubte, dass man sich über solch populistische Äußerungen in der Türkei aufregen würde, wird schockiert sein. Denn Ogan bekam mit seinem Tweet viel Zuspruch. Rund 5,5 Millionen Flüchtlinge leben Schätzungen zufolge derzeit in der Türkei. Nach der Pandemie und Wirtschaftskrise und nach den verheerenden zwei großen Erdbeben sind diese nicht willkommen.
Flüchtlinge spielten bei dem Wahlkampf von Sinan Ogan eine wesentliche Rolle. Ogan will sie zurückschicken. In seinen Beiträgen auf den sozialen Medien werden Syrer oft als kriminell und gefährlich dargestellt, während das Türkentum hochgelobt wird.
Bei der Wahl am Sonntag hat der aussichtslose Kandidat Ogan den dritten und letzten Platz belegt. Überraschenderweise hat er aber 5,1 Prozent der Stimmen erhalten. Auf den amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyib Erdogan fielen 49,5 Prozent, der damit die nötige Mehrheit für den Sieg im ersten Wahlgang knapp verpasst hat. Sein Herausforderer Kilicdaroglu, der Kandidat des größten Oppositionsbündnisses, hat rund 45 Prozent der Stimmen erhalten.
Mit dem unerwartet hohen Stimmenanteil von 5,1 Prozent könnte nun der Nationalist Sinan Ogan den Verlauf der Stichwahl in gut zwei Wochen beeinflussen. Ob er eine Wahlempfehlung ausspricht und wenn ja, ob seine Wählerschaft ihm dann folgen wird, ist ungewiss. Auch über seine Wähler ist kaum etwas bekannt. Dennoch hat Ogan die Karten für die Verhandlungen auf jeden Fall in der Hand. Und wenn Erdogan und Kilicdaroglu die Präsidentschaft gewinnen wollen, kommen sie um Ogan nicht herum.
Ogan hat sein Ziel erreicht
Sinan Ogan hat von Anfang an darauf abgezielt, die Wahl erst in der zweiten Runde entscheiden zu lassen. Auf diese Weise will er die Hauptakteure Erdogan und Kilicdaroglu zu Verhandlungen zu seinen Bedingungen zwingen. Seine Unterstützung und die seiner Allianz will der Taktiker Ogan teuer verkaufen. „Wenn es so weit ist, werden wir uns nicht umsonst an den Verhandlungstisch begeben“, sagte er bereits vor den Wahlen. Als Gegenleistung für die Unterstützung brachte er Forderungen nach Ministerposten in der neuen Regierung ins Gespräch.
Derzeit berät sich Ogan mit der Spitze seiner Allianz. Anschließend wird er vermutlich mit Erdogan und Kilicdaroglu in Sondierungsgespräche treten. Vor den Wahlen hat Ogan beide heftig wegen der mutmaßlichen Zusammenarbeit mit den Kurden kritisiert. Dem Regierungslager warf er vor, mit der prokurdischen Islamistenpartei HÜDAPAR zu kooperieren.
Das Oppositionsbündnis wiederum hat Ogan angeprangert, weil es die Unterstützung der prokurdischen Partei HDP für seinen Kandidaten Kilicdaroglu eingeholt hat. Ogan sieht die HDP, die drittstärkste Kraft im Parlament, eher der Terrororganisation PKK nahe.
Ideologisch gesehen steht Ogan dem islamisch-konservativen Erdogan näher als seinem liberal-säkularen Herausforderer Kilicdaroglu. Sollte Ogan dennoch eine Wahlempfehlung für den Oppositionskandidaten aussprechen, wird er dies sicher an weitere Bedingungen knüpfen, wie etwa auf die Unterstützung von Kurden zu verzichten. Ob Kilicdaroglu sich dies leisten kann, ist höchst fraglich. Denn die HDP-Wähler haben in ihren Hochburgen mehrheitlich für den Oppositionsführer gestimmt.
Stichwahl ist auch Schicksalswahl
In der Türkei herrscht seit 2018 das Präsidialsystem. Das Staatsoberhaupt ist der Präsident, der auch der Regierung vorsteht. Er ernennt und entlässt die Minister und hohe Staatsbeamten je nach seinem Ermessen. Außerdem hat er auch die Befugnis, Präsidialverordnungen zu erlassen und viele Posten in der Justiz, im Finanz- oder Bildungswesen zu besetzen. Kritische Ämter wie der Geheimdienst oder die mächtige Religionsbehörde Diyanet unterstehen direkt dem Präsidenten. Am 28. Mai wird also nicht nur über ein repräsentatives Amt bestimmt, sondern auch über einen Regierungschef, der die nächsten fünf Jahre das Land führen sowie innen- und außenpolitsch prägen wird.
Wer ist Sinan Ogan?
Sinan Ogan ist in der ostanatolischen Stadt Igdir geboren. Studiert hat er Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften an der Marmara Universität in Istanbul. Nach einem Forschungsaufenthalt in Moskau hat er in Aserbaidschan als Wissenschaftler an Universitäten gearbeitet. Ogan war auch der Leiter der Abteilung für Russisch-Ukrainische Studien beim Zentrum für Strategische Eurasien-Studien ASAM.
Sinan Ogan entstammt eigentlich der Ideologie der Grauen Wölfe, deren Urorganisation Erdogans größter Partner, die MHP, ist. Auch Ogan war Mitglied dieser Partei (MHP), saß sogar für sie im Parlament. Nach einem innerparteilichen Machtkampf wurde er 2017 endgültig aus der Partei ausgeschlossen. Seitdem ist er parteilos und versucht sich selbst zu profilieren, regierungskritische Nationalisten anzusprechen und diese hinter sich zu versammeln.
Im März war es dann so weit. Vier kleine Splitterparteien haben unter der Führung der rechtspopulistischen „Partei des Sieges“ die ATA-Allianz gegründet. Zum Präsidentschaftskandidaten wurde der 55-jährige Sinan Ogan gekürt.