Als das Erdbeben begann, flohen Ramadan Hilal und seine Familie in Panik aus ihrem Haus in Dschinderes im Norden Syriens. „Alle waren barfuß,“ erzählt er der DW. „Wir rannten um unser Leben, verletzt und ohne irgendetwas mitnehmen zu können.“
Zwei Wochen nach dem Beben hat sich Hilals Situation kaum verändert. Dschinderes ist einer der am schlimmsten betroffenen Orte in der Region. Hilal, der seine Heimatstadt Aleppo vor sieben Jahren wegen des syrischen Bürgerkrieges verlassen hatte, lebt jetzt mit seiner Familie in einem selbstgemachten Zelt neben den Überresten seines Hauses.
Er hat versucht, Brauchbares aus dem zerstörten Haus zu retten, obwohl es droht ineinander zu stürzen. „Selbst für das Zelt, in dem wir leben, musste ich mir das Gestänge borgen und den Stoff für die Bespannung selber kaufen,“ klagt Hilal. „Wir haben bis heute keinerlei Hilfe bekommen.“
Vier Tage nach dem Erdbeben erreichten die ersten Hilfskonvois die Region. Doch die waren schon vor der Katastrophe losgefahren. Und erst in der letzten Woche kamen die ersten Hilfstransporte mit Zelten, Medizin, Lebensmitteln und anderen Dingen in nennenswerter Zahl an.
Bewohner wie Hilal, die versuchen in den Wintertemperaturen zu überleben, sagen, dass sei viel zu spät und auch viel zu wenig. In den letzten Tagen verbreiteten sich Geschichten von Rettungskräften, die mit bloßen Händen versuchten, Menschen zu befreien. Doch schließlich erstarben die Stimmen der Menschen unter dem Schutt – für sie kam jegliche Hilfe zu spät.
Warum hat es so lange gedauert?
Nur gut vier Millionen Menschen leben in dieser Gegend, vor allem Syrer, die aus anderen Teilen des Landes vor dem Bürgerkrieg flüchteten. Kontrolliert wird das Gebiet von unterschiedlichen Gruppierungen, die gegen die syrische Regierung kämpfen.
Jahrelange Kämpfe, Ad hoc Regierungen und Angriffe auf die Infrastruktur durch Syrien und seinen Verbündeten Russland führten dazu, das medizinische Einrichtungen und Notfallhilfe schon unter Druck standen oder einfach nicht mehr existierten, bevor sich das Beben ereignete. Schon vor dieser letzten Katastrophe waren die Menschen hier auf internationale Hilfe angewiesen, um zu überleben.
Hilfe in dieses von der Opposition kontrollierte Gebiet zu bringen ist schon lange ein Politikum. Die syrische Regierung unter Diktator Baschar Assad besteht darauf, dass alle humanitäre Hilfe über Damaskus abgewickelt wird.
Faktisch nutzte Assad die internationalen Hilfslieferungen bisher, um sich und seine Unterstützer zu bereichern und zugleich sicher zu stellen, dass seine Gegner in den von der Opposition kontrollierten Gebieten von Hilfe abgeschnitten wurden.
Deshalb bestanden die UN und humanitäre Hilfsorganisationen bereits früh im Bürgerkrieg darauf, dass Hilfe über die türkische Grenze direkt in von der Opposition kontrollierte Gebiete gehen sollte, ohne das Assad-Regime um Erlaubnis zu fragen. So gelangte der größte Teil der Hilfe in den letzten Jahren in diese Gebiete.
Mitte 2014 wurde der UN-Sicherheitsrat in die Entscheidungen zu Hilfen für Syrien mit einbezogen. Der Sicherheitsrat entschied, das UN-Hilfsorganisationen und ihren Partnern erlaubt wurde, vier Grenzübergänge – zwei von der Türkei aus, jeweils einen von Jordanien und Irak aus – zu nutzen, ohne eine Genehmigung dafür zu brauchen.
Doch seit 2014 hat sich die Lage wegen Russlands zunehmender militärischer Unterstützung für Assad und des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022 dramatisch verändert, so dass auch die Spannungen im UN-Sicherheitsrat zunahmen.
Grenzüberschreitende Hilfe für den Nordwesten Syriens wurde zur politischen Verhandlungsmasse, wobei Russland seinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat nutzt, um das Assad-Regime zu unterstützen und Zugeständnisse anderer Sicherheitsrats-Mitglieder zu erpressen. Seit 2020 gestattet der UN-Sicherheitsrat aufgrund dieses Drucks den Transport von Hilfen nur über einen türkisch-syrischen Grenzübergang.
Wer ist verantwortlich?
Das war die Situation, als sich die zwei furchtbaren Erdbeben in den Morgenstunden des 6. Februar ereigneten. Am 13. Februar stimmte das Assad-Regime zu, dass zwei weitere türkische Grenzübergänge für drei Monate geöffnet werden könnten. Während Assad-Unterstützer behaupten, die internationalen Sanktionen seien Schuld an der Situation, sagen Kritiker, dass die syrische Regierung aus zynischen politischen Gründen so lange mit der Entscheidung gewartet hat.
Die Grenze zu öffnen, sei „für das Regime eine Möglichkeit, die Tragödie für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren,“ sagte Joseph Daher, Syrien-Experte beim European University Institute in Italien, gegenüber der Washington Post.
„Wir haben immer wieder gesehen, dass die syrische Regierung willens und in der Lage ist, Krisen zu nutzen, um seine Kontrolle auszuweiten,“ fügt Jesse Marks von Refugees International in einem Statement hinzu.
Schwarzer Peter für die Vereinten Nationen
Zum Teil wurden aber auch die UN beschuldigt. Offenbar hatte die türkische Regierung bereits am 8. Februar zugestimmt, zwei weitere Übergänge zu öffnen, doch die UN entschieden sich, auf die Zustimmung der syrischen Regierung zu warten.
„Auf meine Frage an die UN, warum die Hilfe nicht rechtzeitig eingetroffen sei, lautete die Antwort Bürokratie,“ schrieb der Chef der syrischen Weißhelme , Raed Saleh, in einem Kommentar für CNN letzte Woche. „Angesichts einer der tödlichsten Katastrophen, die die Welt in den letzten Jahren getroffen haben, sind die UN in ihrer Bürokratie gefangen.“
„Die UN sitzen in der Zwickmühle,“ erklärte Ibrahim Olabi, Anwalt und Gründer des Syrian Legal Development Program gegenüber der DW. Wenn sie die komplexen politischen Fragen, die hinter der Grenzübergangs-Debatte liegen und das Mandat des Sicherheitsrates ignorieren, „dann riskieren sie, die Beziehungen zu Damaskus zu gefährden, und dort womöglich nicht mehr arbeiten zu können.“
„Es gab keinen Grund für die UN eine Woche lang zu warten, um dann eine überflüssige Erlaubnis (die Grenze zu öffnen) zu erhalten und das als Triumph der Diplomatie zu präsentieren,“ so Muhammad Idrees Ahmad in einem Essay für das US-Außenpolitik-Magazin News Lines. „Das war ungefähr so, als würde man Russland um Erlaubnis bitten, Hilfe an die Ukraine zu liefern,“ argumentierte Ahmad.
Andere Organisationen reagierten ähnlich. „Die langsame humanitäre Antwort auf die Erdbeben (im Norden Syriens) …macht deutlich, wie unzureichend die vom Sicherheitsrat mandatierten grenzüberschreitenden Hilfsmechanismen in Syrien funktionieren und zeigen den dringenden Bedarf an Alternativen,“ so Human Rights Watch in einem Statement in der vergangenen Woche.
Profiteure der Katastrophe
Doch nicht nur das Zögern der UN behinderte die Hilfslieferungen. Einige Konvois, die die Grenze von von der Regierung kontrollierten Gebieten aus überqueren wollten, wurden von oppositionellen Gruppen daran gehindert.
Human Rights Watch berichtete, dass Gruppen wir Hayat Tahrir al Sharm Lkw zurückschickten, weil sie sich weigerten, überhaupt irgendetwas von einer Regierung zu akzeptieren, die sie über Jahre bombardiert, ausgehungert und beschossen hat. Genauso verhalten sich von der Türkei unterstützte Gruppen in anderen Teilen Nord-Syriens.
Außerdem gibt es Berichte, wonach verschiedene unabhängige bewaffnete Gruppen sich einen Teil der Hilfslieferungen nehmen, die über die Checkpoints gehen, und an Menschen in ihren eigenen Gebieten verteilen. Das war auch schon vor den Beben die gängige Praxis.
Diese Art „Abschöpfung”, so Vorwürfe, praktiziert auch die syrische Regierung. Ein Helfer aus der Region beschrieb gegenüber Human Rights Watch, dass er einen syrischen Hilfskonvoi beobachtet hatte, der an der Weiterfahrt von örtlichen Beamten gehindert wurde, solange er nicht die Hälfte seiner Ladung übergab. Später kursierten in Sozialen Medien Videos von Paketen, die mit den Logos der UN und des syrischen Roten Halbmondes markiert waren und in Damaskus und anderen syrischen Städten verkauft wurden.