Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt werden zahlreiche Forderungen laut: Die Politik will schärfere Sicherheitsgesetze – die Polizei eine bessere Vernetzung der Behörden. Einigkeit herrscht bei dem Wunsch nach Aufarbeitung.
Der Anschlag in Magdeburg mit fünf Toten hat eine neue Debatte über eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze und Versäumnisse der Behörden ausgelöst. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) plädierte dafür, rasch neue Gesetze zur inneren Sicherheit zu beschließen. In einem am Interview mit dem Magazin Spiegel nannte Faeser etwa das neue Bundespolizeigesetz, das die Bundespolizei stärken soll, oder die Einführung der biometrischen Überwachung von Ausländern.
„All diese Gesetzentwürfe von uns könnten sofort beschlossen werden, wenn Union und FDP sich dem nicht verweigern“, sagte die SPD-Politikerin. „Klar ist, dass wir alles tun müssen, um die Menschen in Deutschland vor solchen entsetzlichen Gewalttaten zu schützen“, betonte sie. „Dafür brauchen unsere Sicherheitsbehörden alle notwendigen Befugnisse und mehr Personal.“
Der Unions-Abgeordnete Thorsten Frei sagte, insbesondere im digitalen Bereich hätten sich in der Vergangenheit Lücken gezeigt. Das gelte für die Speicherung von IP-Adressen oder die biometrische Gesichtserkennung an speziellen Gefahrenpunkten.
Keine voreiligen Schlüsse ziehen
Gleichzeitig warnten Spitzenpolitiker vor vorschnellen Schlüssen und Symbolpolitik. „Unsere Aufgabe ist, den Opfern und ihren Angehörigen beizustehen. Schlecht wäre ein Überbietungswettbewerb um symbolische Maßnahmen. Das würde der schlimmen Situation nicht gerecht“, sagte FDP-Generalsekretär Marco Buschmann dem Spiegel.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese erklärte, es sei zu früh, um sagen zu können, ob eine spezielle Befugnis geholfen hätte, den Anschlag zu verhindern. Man müsse die Ermittlungsergebnisse abwarten. Auch SPD-Generalsekretär Matthias Miersch rief zur Besonnenheit auf: „Instrumentalisierungen oder vorschnelle Schlüsse helfen niemandem und spalten nur unsere Gesellschaft“, sagte er dem Spiegel.
Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck rief in einer Videobotschaft ebenfalls dazu auf, „sich nicht vom Hass anstecken“ zu lassen. Rechte Gruppen hatten bereits kurz nach der Tat zu Demonstrationen aufgerufen.
Versagen der Behörden?
Nach der Todesfahrt rückt die Frage in den Blick, ob die Gewalttat hätte verhindert werden können. Die Bundesinnenministerin sagte bereits einen Tag nach der Tat schnelle Aufklärung zu. Faeser versicherte, dass bei der Aufarbeitung des Anschlags „durch die Bundesbehörden jeder Stein umgedreht“ werde.
Ähnlich äußerte sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. „Da sind die Sicherheitsbehörden dran“, sagte Baerbock der Nachrichtenagentur dpa. Zugleich betonte die Grünen-Politikerin, dass in den Tagen danach das Mitgefühl den Betroffenen und den Familien der Opfer gelte. Es müsse deutlich gemacht werden, Weihnachtsmärkte als „Orte des Zusammenhalts, des Miteinanders einer Gesellschaft“ weiter zu erhalten.
Auch der Bundestag will sich noch in diesem Jahr mit dem Anschlag befassen. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios sollen sich der Innenausschuss und das Parlamentarische Kontrollgremium – das die Nachrichtendienste kontrollieren soll – am 30. Dezember mit der Sicherheitslage in Deutschland beschäftigen.
„Zwei Tage nach der fürchterlichen Tat kommen immer mehr Details über den Täter ans Licht, die nicht ins Schema X passen, sondern noch Fragen an die Sicherheitsbehörden in Bund und in Sachsen-Anhalt aufwerfen“, erklärte SPD-Fraktionsvize Wiese. Aus seiner Sicht sollten bei den Sondersitzungen von Innenausschuss und Kontrollgremium neben Faeser auch die Präsidenten von Bundesnachrichtendienst (BND), Verfassungsschutz und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vorgeladen werden.
Zahlreiche Hinweise schon seit Jahren
Offenbar hatte es bereits zahlreiche Hinweise gegeben, dass von Taleb A. eine mögliche Gefahr ausgehen könnte. So hatte etwa das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach eigenen Angaben einen Hinweis zu dem Täter erhalten. Die Nachricht sei im Spätsommer letzten Jahres über die Social-Media-Kanäle eingegangen, erklärte das BAMF. „Dieser wurde, wie jeder andere der zahlreichen Hinweise auch, ernst genommen.“ Da das Bundesamt aber keine Ermittlungsbehörde ist, sei die hinweisgebende Person, wie in solchen Fällen üblich, direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen worden, hieß es.
Dokument zeigt schriftliche Gefährderansprache
Wie MDR-Recherchen zeigen, übermittelte die Magdeburger Polizei Taleb A. noch im vergangenen Jahr eine schriftliche Gefährderansprache. Zuvor hatte die Polizei eingeräumt, dass eine geplante Gefährderansprache nicht durchgeführt werden konnte, da man Taleb A. nicht angetroffen habe. Ob es erst zum Versuch einer persönlichen Gefährderansprache kam und danach das Schreiben versendet wurde, ist derzeit unklar. Ebenso unklar ist, ob das Gefährderanschreiben von Taleb A. unterzeichnet und zurückgesendet wurde.
Eine Gefährderansprache können Polizeibehörden vornehmen, wenn Menschen noch nicht straffällig geworden sind. Dafür müssen konkrete Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen könnte.
Die schriftliche Gefährderansprache liegt dem MDR vor.
Bericht über mehrere Geldstrafen
Nach Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios soll der Mann bereits vor mehr als zehn Jahren auffällig gewesen sein. Aus Ermittlungskreisen hieß es, dass er 2013 vom Amtsgericht Rostock wegen der Androhung von Straftaten zu 90 Tagessätzen zu je zehn Euro verurteilt worden sei. Bei dem späteren Asylverfahren habe die Verurteilung aber nicht zu einer Ablehnung seines Antrags geführt.
In Berlin wurde laut Spiegel gegen A. wegen des Missbrauchs von Notrufen ermittelt. Als Strafe wurde er zu 20 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. Am Tag vor dem Magdeburger Anschlag sollte über einen Einspruch von A. dagegen verhandelt werden, bestätigte die Staatsanwaltschaft dem Spiegel. Er sei aber nicht erschienen und der Einspruch verworfen worden.
Außerdem hatte A. in den vergangenen Jahren Konflikte mit dem Zentralrat der Ex-Muslime. Der aus Saudi-Arabien stammende Arzt habe den Zentralrat und die angeschlossene Säkulare Flüchtlingshilfe „seit Jahren terrorisiert“, erklärte die Vorsitzende der Organisation, Mina Ahadi.
Laut Spiegel ist A. im November und Dezember mehrfach nach Magdeburg gefahren und hat sich dort in der Innenstadt in einem Hotel eingemietet. Er habe sich dort möglicherweise auf den Anschlag vorbereitet, berichtete das Magazin unter Berufung auf Sicherheitskreise.
GdP fordert mehr Austausch unter Behörden
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg einen fehlenden Behördenaustausch. „Wir sprechen zu wenig bei den Behörden untereinander. Der Datenaustausch ist nicht automatisiert», sagte Jochen Kopelke dem Fernsehsender Phoenix. Eine Rolle spielen zudem aus seiner Sicht falsche Schwerpunkte bei Sicherheitsgesetzen. „Der Datenschutz verhindert, dass viel mehr Informationen fließen. Das ist ein Kernproblem in der deutschen föderalen Sicherheitsarchitektur.“
Nach einer Trauerphase müsse intensiv darüber gesprochen werden, welche Sofortmaßnahmen ergriffen werden müssten, sagte der GdP-Vorsitzende. Er frage sich, warum nicht vor dem Anschlag das Nötige getan worden sei – obwohl sehr viele Behörden im Vorfeld den Täter im Visier gehabt hätten. Man müsse sich schnellstens auch grundsätzlich Gedanken darüber machen, wie man etwa Hinweise aus dem Ausland künftig behandele. §Das muss viel besser standardisiert und automatisiert stattfinden.“ Seit langem warte man polizeilich auch darauf, schneller auf Erkenntnisse in anderen Regionen Deutschlands zurückgreifen zu können.
In der Regel spricht die tagesschau bei Gewalttaten und Verbrechen bis zu einem Urteil von“ mutmaßlichem Täter/mutmaßlicher Täterin“ – je nach Formulierung auch von „Tatverdächtigen/Tatverdächtiger“. Denn: Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.
Eine Ausnahme machen wir dann, wenn die Täterschaft gut belegt ist. So ist es auch im Fall des Anschlags von Magdeburg. Hier ereignete sich die Tat in der Öffentlichkeit. Taleb A. wurde festgenommen, nachdem er aus dem Tatfahrzeug ausgestiegen war. Deshalb sprechen wir künftig von Taleb A. als Täter und Todesfahrer und verzichten auf den Zusatz „mutmaßlich“.
Auch der Pressekodex sieht dieses Vorgehen vor. In Richtlinie 13.1 heißt es dazu: „Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn (…) er die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat. In der Sprache der Berichterstattung ist die Presse nicht an juristische Begrifflichkeiten gebunden, die für den Leser unerheblich sind.“