Die überforderte italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ruft, Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin kommt.
Bereits an diesem Wochenende wollen beide Politikerinnen die italienische Insel Lampedusa besuchen, auf der in dieser Woche rund 8000 Migranten aus Tunesien eintrafen. Meloni sagte in einem Video auf der Plattform X (vormals Twitter), Italien brauche und fordere die Hilfe der EU.
„Der Migrationsdruck, den Italien seit Anfang des Jahres erlebt, ist unhaltbar“, sagte die rechtsradikale Politikerin.
Sie hatte im Wahlkampf ein Ende der Migration versprochen und steht nun angesichts der Bilder von chaotischen Zuständen auf Lampedusa politisch unter Druck, auch zu liefern. Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr. Im April kamen an einem Wochenende bereits schon einmal 2000 Menschen auf Lampedusa an.
Rechtspopulisten sprechen von „Krieg“
Ein Sprecher der EU-Kommissionspräsidentin kündigte in Brüssel an, Ursula von der Leyen werde nach Rom reisen, um dort Meloni zu treffen und dann mit ihr nach Lampedusa zu fliegen. Damit kommt sie der nachdrücklichen Aufforderung Melonis nach.
Vor ihr war bereits die rechtspopulistische französische Politikerin Marion Maréchal am Freitag zu Besuch auf Lampedusa. Marion Maréchal ist die Nichte von Marine Le Pen von der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National.
Le Pen traf in Italien den Parteichef der rechtspopulistischen Lega, Matteo Salvini. Salvini ist Koalitionspartner von Giorgia Meloni in der italienischen Regierung.
Salvini hatte die Ankunft von Hunderten kleiner Boote auf Lampedusa einen „Akt des Krieges“ genannt, ohne zu benennen, wer der Krieg führende Staat sein soll. Der Vergleich des Rechtspopulisten hinkt allerdings, da die Migranten auf den Booten unbewaffnet waren und keiner erkennbaren militärischen Struktur angehören.
Lampedusa mit eigenen Augen sehen
Das Rote Kreuz Italiens und die Stadtverwaltung von Lampedusa mühen sich unterdessen, die Ankömmlinge irgendwie zu versorgen. Die Polizei versucht, die Ordnung aufrechtzuerhalten, während die Küstenwache und die Präfektur mit Fähren die Migranten auf Häfen auf Sizilien und dem Festland verteilen. Etwa die Hälfte der 8000 Migranten konnte Lampedusa, das nur 140 Kilometer von der tunesischen Küste entfernt liegt, wieder verlassen.
Ursula von der Leyen wird also die Zustände auf Lampedusa sehen und bedauern können. Unmittelbare Katastrophenhilfe wird sie nicht dabeihaben.
Denn diese müsste von den übrigen EU-Mitgliedsstaaten geliefert und von Italien beim Koordinierungsstab der EU-Kommission in Brüssel angefordert werden. Italien erhält bereits seit Jahren personelle und finanzielle Unterstützung von der EU für das Betreiben von Aufnahmelagern und Registrierstellen, den sogenannten Hotspots.
Was darf eine Marinemission?
In ihrer Videobotschaft vom Freitagabend forderte die italienische Ministerpräsidentin einen Paradigmenwechsel in der EU. Sie hatte bereits beim jüngsten EU-Gipfel im Juni im Brüssel gesagt, die beste Lösung sei ein völliger Stopp der Migration.
Offenbar will Meloni mit Hilfe einer EU-Mission das Ablegen von Booten in Tunesien verhindern. Das verstößt aber offensichtlich gegen internationales Seerecht.
In der 12-Meilen-Zone vor der tunesischen Küste dürfen weder italienische noch andere Schiffe aus der EU operieren. Dort ist allein Tunesien zuständig. Auf hoher See, außerhalb von 12-Meilen-Zonen, dürften EU-Marineschiffe überhaupt nicht eingreifen, so lange die Boote der Migranten seetüchtig sind.
Ebensowenig kann Italien das Anlegen von Booten in seinen Häfen auf Dauer verhindern. Die italienischen Behörden können seetüchtigen Booten allerdings die Zufahrt zunächst aus Sicherheitsgründen verweigern und andere Häfen zuweisen.
Schiffbrüchigen auf Rettungsschiffen muss die italienische Rettungsleitstelle in Rom einen sicheren Hafen zuweisen, der aber auch weit entfernt in Norditalien liegen kann. Seit Jahresbeginn versucht die italienische Regierung so, den privaten Rettungsschiffen ihre Tätigkeit zu erschweren.
Überfahrt auf eigene Faust
In der Praxis hat das auf die Zahl der ankommenden Menschen kaum einen Einfluss, weil nach Angaben der Küstenwache etwa 90 Prozent der Migranten die Überfahrt aus eigener Kraft schaffen und irgendwo innerhalb oder außerhalb eines Hafens in Italien an Land gehen.
In den ersten acht Monaten des Jahres sollen 120.000 Migranten in Italien angekommen sein. Gemeinsame EU-Marinemissionen unter italienischer Führung hat es in den vergangenen Jahren übrigens mehrere gegeben: Mare nostrum, Triton und Sophia.
Die jüngste wurde im Jahr 2020 auf Drängen der italienischen Regierung wieder eingestellt, weil ihr die Mandate, die anfänglich auch Seenotrettung umfassten, zu weit gingen. Wie sich die italienische Regierungschefin eine neue Marinemission vorstellt, ist noch unklar.
Ursula von der Leyen und Giorgia Meloni hatten im Juli zusammen mit dem niederländischen Premier Mark Rutte Tunesien besucht, das im Moment als hauptsächliches Transitland für Bootsmigranten dient. Danach verkündeten sie, dass sie mit dem tunesischen Präsidenten ein Abkommen vereinbart hätten.
Tunesien soll gegen Wirtschaftshilfe von rund einer Milliarde Euro Flüchtlinge von der Überfahrt nach Europa abhalten. Ob und wie das geschehen soll, ist aber noch offen, zumal der tunesische Präsident Kais Saied erklärt hatte, sein Land werde nicht das Flüchtlingslager der EU werden.
Asylpaket der EU soll kommen
Der Forderung der italienischen Regierungschefin, den neuen sogenannten Asylpakt der EU so schnell wie möglich umzusetzen, kann die Kommissionspräsidentin der EU sicher zustimmen. Sie hatte sich erst am Mittwoch in ihrer Rede zur Lage der EU im Europäischen Parlament in Straßburg dafür ausgesprochen, den Pakt, den die EU-Kommission seit Jahren vorschlägt, nun endlich zu beschließen.
Die zuständigen EU-Innenminister konnten sich aber nicht auf letzte Bestimmungen des Paktes einigen. Sollte er nach dem notwendigen Gesetzgebungsverfahren in ein, zwei Jahren Wirkung entfalten, würde er für eine begrenzte Anzahl von Migranten schnellere Verfahren und schnellere Abschiebungen vorsehen.
Auch eine Verteilung von Migranten auf Mitgliedsstaaten wäre im Prinzip möglich. Den von Meloni geforderten Stopp der Migration sieht er aber auf keinen Fall vor. Der Pakt wird im Übrigen von den rechtsnationalen Regierungen in Polen und Ungarn, beide politisch mit Melonis Rechtsregierung verbündet, strikt abgelehnt.
Meloni kündigt weitere Schritte an
Für kommenden Montag hat Meloni Beschlüsse ihres Kabinetts zu „außergewöhnlichen Maßnahmen“ angekündigt. Dazu könnten eine längere Abschiebehaft und ein Einsatz der Armee gehören, um Auffanglager für Migranten auf dem Festland zu betreiben.
Die Mehrheit der in Italien ankommenden Menschen bleibt nicht im Land, sondern zieht weiter nach Norden, hauptsächlich nach Frankreich, Österreich, Deutschland und Großbritannien. Zuständig für die Registrierung und die möglichen Asylverfahren dieser Menschen wäre nach EU-Recht eigentlich Italien.
Die sogenannten Dublin-Regeln sehen vor, dass sich das Land der ersten Einreise darum kümmern muss. Diese 30 Jahre alte Regel, die von Italien in Frage gestellt wird, ist bis heute nicht geändert worden, weil dazu einstimmige Beschlüsse aller EU-Staaten nötig wären.
Die Länder, die keine Ersteinreisestaaten sind, also nicht an den Außengrenzen oder Migrationsrouten liegen, lehnen eine Änderung mehrheitlich ab. Giorgia Meloni will das Thema Migration auf die Tagesordnung des nächsten EU-Gipfels im Oktober setzen lassen.
Migranten verteilen oder Migration stoppen?
Die Bundesregierung hat unterdessen klargestellt, dass Deutschland derzeit keine weiteren Migranten aus Italien freiwillig aufnimmt. Das bestätigte das Bundesinnenministerium der Nachrichtenagentur dpa.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte am Freitag in einem TV-Interview der ARD gesagt, man habe das freiwillige Aufnahmeverfahren ausgesetzt, „weil Italien keinerlei Bereitschaft gezeigt hat, im Wege des Dublin-Verfahrens Leute zurückzunehmen“.
Anschließend hatte sie jedoch hinzugefügt: „Jetzt ist natürlich klar, dass wir unserer solidarischen Verpflichtung auch nachkommen.“ Dieser Nachsatz war zuerst so interpretiert worden, als habe Deutschland die freiwillige Aufnahme von Migranten aus Italien doch fortsetzen wollen.