„Das Gefühl dürfte ein bisschen so sein, wie bei Kindern, die am Tag vor Heiligabend zu Weihnachten auf die Geschenke warten“, meinte ein hoher EU-Beamter bei der Vorbereitung des EU-Gipfeltreffens mit den sechs beitrittswilligen Staaten des westlichen Balkans. Die möglichen Geschenke werden den Staats- und Regierungschefs und -chefinnen aus Albanien, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Kosovo am Mittwoch in Brüssel schon verpackt vorgezeigt. Wer etwas bekommt, wird aber erst am Donnerstag beim eigentlichen Gipfeltreffen der 27 EU-Mitglieder ohne die Balkanländer entschieden. Konkrete Daten für Beitritte von Albanien, Serbien, Montenegro oder Nordmazedonien werden nicht genannt werden. Mit diesen vier Staaten verhandelt die EU-Kommission über die Anpassung von Gesetzen, Staatsaufbau und Regierungspraxis an die EU-Normen.
Antworten suchen die Staats- und Regierungschefs auch auf die Frage, wie sich die EU auf die Aufnahme von neuen Mitgliedern vorbereiten muss. Mit den jetzigen Regeln und Entscheidungsstrukturen sei das nicht zu schaffen, ist die einhellige Meinung. Nur was wie reformiert werden muss, ist seit Jahren in der EU umstritten. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte in einer Rede im slowenischen Bled das Jahr 2030 als Frist für eine Erweiterung genannt. Diese Zahl hat die EU aber offiziell nie in ihre Gipfelerklärungen übernommen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte mehr Tempo bei der Erweiterung gefordert, konkreter wurde er aber nicht. Deutschland will weniger einstimmige Entscheidungen, mehr Beschlüsse per Mehrheit. Das sehen viele kleine EU-Staaten skeptisch, die um ihren Einfluss fürchten.
Mehr Schwung für die Erweiterung?
Einig ist man sich in Brüssel nur, dass die Diskussion um die Aufnahme der sechs Balkan Staaten neuen Schwung bekommen hat, seit Russland die Ukraine angreift. Dadurch ist der sicherheitspolitische und geostrategische Aspekt der Balkan-Aufnahme mehr in das Zentrum der Erweiterungsdebatte gerückt. „Es ist eine neue Energie zu spüren“, meinte ein hoher EU-Beamter. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien eröffnet, Bosnien-Herzegowina wurde zum Kandidatenland ernannt. Wann aber Beitrittsgespräche mit dem dysfunktionalen Staatsgebilde, in dem Russland-treue bosnische Serben für Unruhe sorgen, möglich sein werden, ist ungewiss. Bosnien-Herzegowina steht auch 28 Jahre nach den Bürgerkriegen in Jugoslawien unter internationaler Verwaltung.
Zuerst müssen alte Konflikte gelöst werden
Kosovo, das sich von Serbien als Staat losgesagt hat, wird weder von Serbien noch von einigen EU-Mitgliedern als Staat anerkannt, was die förmlichen Schritte hin zu Beitrittsverhandlungen mit der EU sehr kompliziert macht. Die EU forderte die Balkan-Staaten auch vor diesem Gipfeltreffen am Mittwoch routinemäßig auf, die bilateralen Konflikte in der Region zu lösen, um Fortschritte möglich zu machen. Die serbische Regierungschefin Ana Brnabić und die kosovarische Präsidentin Vjosa Osmani werden wohl am Gipfel in Brüssel teilnehmen. Eine wirkliche Annäherung in dem Konflikt zwischen Belgrad und Pristina um serbische Autonomiegebiete im Kosovo, der in diesem Jahr eskaliert ist, erwartet niemand. Die NATO hat ihre Truppen im Kosovo aufstocken müssen, um die Streithähne zu trennen. Der EU-Westbalkan-Gipfel soll laut dem Entwurf der Abschlusserklärung aber beide Seiten auffordern, das schon langem beschlossene Abkommen zur Normalisierung nun auch endlich umzusetzen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell will die Vermittlungsbemühungen zwischen Serbien und Kosovo fortsetzen. Ohne Aussöhnung ist weder der Beitritt Serbiens noch Kosovos zur Europäischen Union absehbar.
Nach den Fortschrittsberichten der EU vom November machen die sechs Balkanstaaten mehr oder weniger schnell Schritt hin zu besserer Rechtsstaatlichkeit, besserer Regierungsführung und besserer Bekämpfung der Korruption. Wirkliche Durchbrüche bei den attestieren Defiziten gab es im ablaufenden Jahr allerdings nicht. Verhandlungskapitel konnten eröffnet, aber nicht geschlossen werden. Mit Albanien wurde eine Bestandsaufnahme gemacht, um dann bald in die tatsächlichen Verhandlungen einsteigen zu können. Die werden im Moment noch von Griechenland aufgehalten, das sich mit Albanien um die Besetzung eines Bürgermeisterpostens in der albanischen Stadt Himara streitet. Fortschritte in Beitrittsverhandlungen sind nur bei einstimmigen Beschlüssen möglich. Jedes EU-Mitgliedsland hat also ein Veto, was die Geschwindigkeit der Verhandlungen nicht gerade beflügelt.
Wirtschaftliche Anreize
Trotz vieler Schwierigkeiten stellte die Europäischen Union vor dem Gipfeltreffen die Dinge heraus, die funktionieren. So ist in der albanischen Hauptstadt Tirana ein Ableger der Europauniversität von Brügge gegründet worden. 500 Studenten lernen dort bereits. Die EU-Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten wollen jetzt weitere Stipendien für dieses Europa-Kolleg bereitstellen. Die Zusammenarbeit der Universitäten in der EU mit Hochschulen in der Balkan-Region soll ausgebaut werden. Die EU hat mehrere Programme aufgelegt, um wirtschaftliches Wachstum, Innovation, Infrastruktur und Investitionen auf dem Balkan anzustoßen. Erst im November kündigte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Wachstumsprogramm im Wert von sechs Milliarden Euro bis 2027 an, das dem Balkan schon vor einer förmlichen Mitgliedschaft die Vorzüge des EU-Binnenmarktes, freien Warenverkehr und Personenfreizügigkeit bringen soll. „Das Potenzial dieses Wachstumsplanes ist außergewöhnlich“, schwärmte von der Leyen über ihr eigenes Projekt. „Der Wachstumsplan könnte die Wirtschaftsleistung des westlichen Balkans in den nächsten zehn Jahren verdoppeln“, versprach sie im November in Brüssel.
China und Russland als Konkurrenz
Seit Oktober dieses Jahres sind die Roaming-Gebühren im mobilen Datenverkehr mit der EU und in den Balkanstaaten spürbar gesunken. Vom kommenden Jahr an können erstmals alle Bürgerinnen und Bürger ohne Visum in die Europäische Union einreisen. Mit Beihilfen zur Energieversorgung und zum Ausbau erneuerbarer Energien will die EU die Balkanstaaten enger an sich binden und den Einfluss der geostrategischen Konkurrenten China und Russland auf dem Balkan zurückdrängen. Nach einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin ist die EU in allen sechs Staaten des Westbalkans mit großem Abstand zu China oder Russland nach wie vor der größte Handelspartner. Bei den direkten Investitionen fallen Serbien und Montenegro auf. In Serbien hat China diese in den letzten Jahren drastisch steigern können und liegt jetzt auf Platz zwei knapp hinter den EU-Mitgliedern. In Montenegro war Russland nach den EU-Staaten der größte Investor, allerdings versucht sich Montenegro seit der Invasion der Ukraine zumindest etwas von Russland zu lösen, so die Experten der SWP.
Beim Balkan-Gipfel in Brüssel will die EU-Führung nun auch Serbien überzeugen, sich einer gemeinsamen Erklärung anzuschließen, in der die außenpolitischen Ziele der EU und die Ablehnung Russlands betont werden sollen. Außerdem sollen sich alle Westbalkan-Staaten den Sanktionen gegen Russland anschließen. Es gilt als eher unwahrscheinlich, dass sich der mit autokratischen Tendenzen regierende serbische Präsident Alexandar Vucic diesem Kurs anschließen wird. Immerhin bezieht Serbien extrem billige Energie aus Russland. EU-Beamte in Brüssel meinten dazu, Serbien werde beim Gipfel zu nichts gezwungen. Beitrittsgespräche mit Belgrad gehen weiter, auch wenn dort die Außenpolitik der EU noch nicht mitgetragen werde.