Der Vorstoß des polnischen Parteivorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczyński kam für die EU-Kommission in Brüssel etwas überraschend: keine Importe mehr von Getreide, Ölsaaten, Milchprodukte und Fleisch aus der Ukraine. Mit den Worten, „wir müssen Fehler korrigieren“, hatte Kaczyński dies am Samstag auf einer Veranstaltung seiner nationalkonservativen Regierungspartei “Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) angekündigt. Ungarn schloss sich der drastischen Maßnahme umgehend an.
Am Wochenende reagierte die zuständige EU-Kommission erst einmal mit einer dürren Stellungnahme. An diesem Montag versuchten die Sprecher der Kommission schließlich zu erklären, was vor sich geht. „Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Handelspolitik in eine alleinige Zuständigkeit der EU fällt. Das heißt Entscheidungen können nur auf europäischer Ebene getroffen werden. Deshalb sind unilaterale Maßnahmen nicht möglich“, stellte Miriam Garcia Ferrer, EU-Sprecherin für Handelsfragen, klar.
Freihandelsabkommen mit der Ukraine
Da es im europäischen Binnenmarkt der 27 Mitgliedsstaaten für Waren keine Grenzen oder Zölle gibt, kann ukrainisches Getreide innerhalb der EU frei gehandelt werden – selbst, wenn Polen oder Ungarn ein Importverbot verhängen. Um wirksam zu sein, müsste ein Importverbot aber von allen 27 Mitgliedsstaaten gebilligt werden. Die Sprecherin für Handelsfragen betonte, es gebe zwischen der EU und der Ukraine ein umfassendes Freihandelsabkommen, dem natürlich auch Polen und Ungarn sowie wie alle andere Mitgliedsstaaten unterliegen. Gemäß den Bestimmungen dieses Abkommens sind die Zölle auf Exporte der Ukraine in die EU und durch die EU seit dem russischen Überfall weitgehend ausgesetzt. Damit sollte es der Ukraine ermöglicht werden, unter Umgehung der von Russland angegriffenen Schwarzmeerhäfen, Getreide und andere Waren ins Ausland zu verkaufen.
Die Juristen der EU-Kommission überprüfen derzeit die offiziellen Begründungen der polnischen und ungarischen Behörden für den Importstopp. Diese argumentieren mit Verzerrungen des Marktes, Nachteilen für heimische Bauern oder Verstößen gegen Produktionsverfahren. Sollte es keine Rechtsgrundlage für das einseitige Vorgehen geben, könnte die EU-Kommission theoretisch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn eröffnen. „Wir sind mit allen Seiten, auch der ukrainischen, in Kontakt“, versicherte Ferrer.
Statt Strafen sollen Lösungen her
„Wir haben es hier mit einem Krieg zu tun“, sagte Eric Mamer, Sprecher der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Bauern und die Bevölkerung in der Ukraine würden offensichtlich leiden. „Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben ihr Möglichstes getan, um der Ukraine zu helfen. Es ist nicht unser Ziel, die Bevölkerung in der EU noch mehr zu belasten. Deshalb geht es nicht um Sanktionen, sondern darum, Lösungen zu finden, die auf EU-Recht beruhen und sowohl die Interessen der Ukrainer als auch der EU berücksichtigen.“
Als Lösung schwebt vielen Politikern in den Staaten an der EU-Ostflanke vor, Zölle für ukrainische Exporte wieder einzuführen. Die EU-Kommission hat genau das Gegenteil vorgeschlagen, nämlich die Zollfreiheit für die angegriffene Ukraine um ein Jahr zu verlängern. Die Wirtschaftsleistung der Ukraine ist seit Kriegsbeginn um ein Drittel gesunken. Exporte sind für sie also überlebenswichtig. Da die Ausfuhren per Schiff über das Schwarze Meer von russischem Wohlwollen abhängig sind, sind alternative Routen über Land dringend nötig.
Mehr Geld als Lösung?
Fünf EU-Staaten, darunter Polen, Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien, hatten sich schon vor vier Wochen schriftlich an die EU-Kommission gewandt und Hilfen für ihre Bauern und Lebensmittelproduzenten gefordert, die unter billigen Importen aus der Ukraine leiden. Daraufhin hatte die EU Ende März ein Hilfspaket in Höhe von 56 Millionen Euro geschnürt, auf das die betroffenen Staaten bereits zurückgreifen können, um ihre Bauern zu entschädigen.
Derzeit arbeitet die EU-Kommission an einem zweiten Hilfspaket in noch unbekannter Höhe, gab die Sprecherin für Handelsfragen Ferrer, bekannt. Mehr Geld könnte die polnische und ungarische Regierung möglicherweise wieder auf den EU-Kurs einschwenken lassen. Denn die Zoll-Ausnahmen für die Ukraine haben alle Mitgliedsstaaten gebilligt, ebenso wie sogenannte „Solidaritäts-Trassen“ für den zollfreien Handel mit allen möglichen Waren aus und für die Ukraine.
Das Getreide, das jetzt vor allem in Polen für Ärger sorgt, sollte eigentlich in Drittstaaten weiter exportiert werden. Oft bleibt es aber in den ukrainischen Nachbarländern und wird verkauft, weil es logistische Probleme mit dem Weitertransport geben soll. Die polnische Regierung hatte in der vergangene Wochen eine Kommission eingesetzt, die mögliche Betrugsfälle aufklären soll. Unter anderem geht es dabei um Fälle, in denen das Getreide falsch gekennzeichnet importiert worden sein soll.
Polen macht Druck
Der neue polnische Landwirtschaftsminister Robert Telus hatte Anfang April mit seinem ukrainischen Kollegen Mykola Solsky eine Vereinbarung getroffen, um die Durchfuhr von zehntausenden Tonnen ukrainischer Exporte pro Monat durch Polen weiter zu ermöglichen. Diese Vereinbarung scheint jetzt hinfällig zu sein. Die Minister wollten sich an diesem Montag noch einmal beraten. Und auch in Brüssel sollen Experten und Beamte in dieser Woche weiter beraten, wie der Handelskonflikt gelöst werden kann.
So überraschend kam die Krise allerdings nicht. Bereits im Dezember 2022 hatten Politiker der polnischen PiS-Partei gefordert, weniger Agrarprodukte aus der Ukraine zu importieren. Polnische Bauern protestieren zudem seit Monaten gegen die billigere Konkurrenz aus dem im Krieg stehenden Nachbarland. Im Herbst stehen in Polen die Wahlen an. Laut polnischen Medien könne der Vorstoß der PiS auch als Wahlkampfmänöver gesehen werden.
Neben Polen und Ungar könnten auch andere Länder nachziehen. So gab die bulgarische Regierung bekannt, sich dem Importverbot für ukrainisches Getreide möglicherweise anzuschließen. Bislang hat Bulgarien für erlittene Verluste 16 Millionen Euro an Ausgleichszahlungen von der EU erhalten. Minister Gechev fordert jetzt noch weitere 50 Millionen Euro. Auch die Slowakei hatte bereits vergangene Woche einige Waren mit einem Bann belegt. Allerdings ist das Handelsvolumen verglichen mit Polen eher klein.