Die Bundeswehr verwaltet den Mangel, nicht nur bei Kampfjets, Fregatten oder Hubschraubern. Seit Jahren fehlen ihr auch Soldatinnen und Soldaten. Immer wieder flammt deshalb die Debatte auf, ob Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen sollte. In einem Interview hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Schweden als Vorbild genannt. Dort war die Wehrpflicht – wie in Deutschland – ausgesetzt und dann aber wieder eingeführt worden. Ein Modell auch für Deutschland?
Die Zahl lautet: 181.383. Über so viele Kräfte in Uniform verfügte die Bundeswehr nach eigenen Angaben Ende Oktober 2023. Zu Zeiten des Kalten Krieges in den 1970er und 1980er Jahren waren es fast eine halbe Million Soldaten. Die Zeiten haben sich geändert; der Kalte Krieg ist Geschichte. Dennoch macht sich Minister Pistorius große Sorgen. Von einer Personalstärke von 203.000 Männern und Frauen in Uniform, die bis 2025 angestrebt ist, ist die Bundeswehr weit entfernt. Und dies in Zeiten des Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine, der klar gemacht hat, wie schnell es zu Konflikten auch in Europa kommen kann.
Schon seit Amtsantritt denkt Pistorius darüber nach, wie er die Bundeswehr wieder attraktiver machen kann. Oder ob wieder eine Dienstpflicht eingeführt werden könnte. Kürzlich hatte er in einem Interview der Zeitung „Welt“ zu Protokoll gegeben, dass er derzeit verschiedene Modelle untersuchen lasse. „Ich prüfe alle Optionen“, sagte Pistorius. Und weiter: „Es hat seinerzeit Gründe gegeben, die Wehrpflicht auszusetzen. Rückblickend war es aber ein Fehler.“
Jahrzehntelang war die Wehrpflicht ein Grundpfeiler der deutschen Gesellschaft. Mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Mitte der 1950er Jahre wurden Männer ab dem 18. Lebensjahr zum Militärdienst eingezogen. Die Idee: Soldaten sollten Bürger in Uniform sein. Fünfeinhalb Jahrzehnte lang leisteten fast alle junge Männer entweder Wehrdienst oder aber Zivildienst in Altersheimen oder Krankenhäusern. Im Sommer 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Damals sollte die Bundeswehr verkleinert werden, Streitkräftereform lautete der Slogan. Im Spannungs- oder Verteidigungsfall könnte sie jedoch wieder aktiviert werden. Heute ist die Bundeswehr eine Freiwilligenarmee, bei der auch Frauen Dienst leisten.
Nur, die Freiwilligen kommen nicht mehr. Der Journalist und Experte für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, Thomas Wiegold, erklärt sich das im DW-Interview so: „Ein großer Frust bei der Bundeswehr ist die Bürokratie. Oft warten Bewerber ein halbes Jahr auf Antwort auf ein Bewerbungsschreiben.“ Der Arbeitsmarkt sei derzeit so, dass sich die jungen Leute aussuchen könnten, wo sie arbeiten wollen. Die Bundeswehr sei kein attraktiver Arbeitgeber.
Wehrpflicht in Schweden – „Traum aller Militärs“
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat aus seinem Ministerium 65 konkrete Vorschläge erhalten für eine Umgestaltung der Bundeswehr: Anwerbung, Rekrutierung, Ausbildung solle reformiert werden, sagte er der „Welt“. Auch die Wehrpflicht stehe wieder zur Debatte: „Daher schaue ich mir weitere Modelle an, etwa das schwedische: Dort werden alle jungen Frauen und Männer gemustert und nur ein ausgewählter Teil von ihnen leistet am Ende den Grundwehrdienst. Ob so etwas auch bei uns denkbar wäre, ist Teil dieser Überlegungen.“
Sicherheitsexperte Wiegold bezeichnet das Schweden-Modell als „Traum aller Militärs“. „Die Streitkräfte dort brauchen längst nicht jeden, den sie mustern. Sondern die suchen sich die aus, die gerade die richtigen Fähigkeiten haben.“
Die politische Debatte über die Wehrpflicht – mit Überraschungen
Kaum hatte Pistorius seine Überlegungen publik gemacht, brach ein Sturm der Empörung los. Sogar aus der eigenen Partei, der SPD, musste sich Pistorius Kritik anhören. Die SPD-Parteivorsitzende, Saskia Esken glaubt, die Bundeswehr habe sich mittlerweile so entwickelt, dass sie gar nicht ad hoc in der Lage wäre, eine verpflichtende Rekrutierung umsetzen. „Denn diese Ausbildungseinheiten, die dazu notwendig sind, sind ja gar nicht mehr vorhanden.“
Auch die FDP, ebenfalls an der Koalitionsregierung beteiligt, äußerte sich kritisch. FDP-Fraktionschef Christian Dürr sagte in einem Interview der Funke Mediengruppe: „Die Wiedereinführung einer Dienstpflicht wäre ein schwerer Eingriff in die Freiheit junger Menschen, die sich beruflich orientieren wollen.“
Unterstützung hingegen kommt von der konservativen Opposition. Im Gespräch mit der DW erklärt der Fraktionsvize der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul: „Die Position der CDU ist hier eindeutig: Wir sind für eine allgemeine Dienstpflicht, also einem Dienst in der Bundeswehr, aber auch bei anderen sogenannten Blaulichtorganisationen.“ Gemeint sind damit Feuerwehren, das Technische Hilfswerk oder karikative Organisationen. „Es ist jetzt an der Zeit, dass junge Menschen auch gefragt werden, was sie für unseren Staat – für unsere Gesellschaft – leisten können“, fügt Wadephul hinzu.
Kommt sie wieder – die Wehrpflicht?
„Schwer zu beantworten“, sagt Sicherheitsexperte Thomas Wiegold. Die sicherheitspolitische Lage habe sich – vor allem seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine – radikal verändert.
Eine Wehrpflicht, wie sie Deutschland vor 2011 hatte, werde wohl nicht mehr kommen, glaubt Wiegold. Schon, weil Frauen unter dem Modell der alten Wehrpflicht gar nicht als Soldatinnen vorgesehen waren. Ganz ausschließen will er andere Formen einer Dienstpflicht aber nicht. In der Sicherheitspolitik sei derzeit vieles denkbar: „Wer hätte denn vor rund zwei Jahren gedacht, dass der Bundestag vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr beschließt?“
Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt es so: „Ich prüfe alle Optionen. Aber jedes Modell, egal welches, braucht auch politische Mehrheiten.“