Wenige Tage vor der Reise von Olaf Scholz nach Washington gab es ein erstaunliches transatlantisches Schauspiel: Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan sagte in einem Fernsehinterview, der Präsident habe nur aufgrund des Drängens von Bundeskanzler Scholz zugestimmt, amerikanische Abrams-Kampfpanzer in die Ukraine zu liefern. Sie sollen die deutschen Leopard-Panzer später ergänzen, die Deutschland und andere europäische NATO-Staaten schicken wollen.
Damit widersprach Sullivan nicht nur früheren Aussagen seines Chefs („Deutschland hat mich nicht gezwungen, meine Meinung zu ändern“), sondern auch der Bundesregierung. Denn deren Sprecher hat ausdrücklich „ein Junktim“ aus deutschen Leoparden und amerikanischen Abrams bestritten.
Mit dem Dementi „möchte man den Eindruck vermeiden, dass die Amerikaner da unter Druck gesetzt worden sind“, sagt Henning Hoff von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Executive Editor von „Internationale Politik Quarterly“, im DW-Gespräch. „Ich glaube, was klar geworden ist, dass Bundeskanzler Scholz in Washington deutlich machen konnte: Ich brauche diese Rückendeckung, sonst kann ich diesen Schritt nur sehr schwer gehen. Und das hat letztlich Erfolg gehabt, auch, denke ich, weil der Bundeskanzler tatsächlich einen ganz guten persönlichen Draht zu Präsident Biden hat.“
Strategische Autonomie Europas noch eine Illusion
Damit hat Scholz in Washington doch einen gewissen Einfluss bewiesen, auch wenn Kritiker den Vorgang eher als Erpressung sehen. Scholz wurde im Laufe des jetzt einjährigen Krieges sowohl innen- wie außenpolitisch oft als zögerlich kritisiert. Gerade der Lieferung der Kampfpanzer hatte sich Scholz so lange verweigert, bis auch Biden mitzog. Dass die deutschen Leopard-Panzer schon in den kommenden Wochen in der Ukraine eintreffen sollen, während die amerikanischen Abrams frühestens Ende des Jahres erwartet werden, dürfte die Position des Bundeskanzlers in Washington zusätzlich stärken.
Der Ukraine-Krieg hat allerdings noch einmal deutlich gezeigt, wie groß die sicherheitspolitische Abhängigkeit Deutschlands und der EU von den USA ist. Die amerikanische Militär- und Finanzhilfe für die Ukraine ist bisher die mit Abstand größte unter allen westlichen Unterstützerländern, und ohne den nuklearen Schutzschirm der USA wäre das gesamte Engagement angesichts der Atommacht Russland kaum glaubwürdig.
„Die Idee, Europa könne sicherheitspolitisch autonom agieren, dieser Traum ist, glaube ich, vorerst ausgeträumt“, sagt Henning Hoff. „Europa muss sich unglaublich anstrengen, um verteidigungspolitisch und sicherheitspolitisch aufzuschließen, und erst dann kann man wieder davon reden, dass Europa auch eigenständig agieren könnte.“
Verteidigungspolitischer Musterknabe Polen
Die deutsche Regierung hat kurz nach Kriegsbeginn eine 100-Milliarden-Euro-Spritze für die Bundeswehr beschlossen, die bei Kriegsausbruch vom obersten Heeresgeneral Alfons Mais als „mehr oder weniger blank“ bezeichnet wurde. Schon lange vor Biden haben US-Präsidenten Deutschland aufgefordert, mehr für Verteidigung auszugeben. Deutschland nähert sich auch jetzt nur langsam dem Zwei-Prozent-Ziel der NATO an und lag im vergangenen Jahr erst bei knapp 1,5 Prozent.
Dagegen will Polen in diesem Jahr vier Prozent seiner Wirtschaftskraft für seine Streitkräfte ausgeben. Als Biden vergangene Woche nach seinem Überraschungsbesuch in Kiew auch in Warschau war und dort voll des Lobes für Polen, wurde das in Berlin durchaus bemerkt. Ein Abstecher des US-Präsidenten nach Berlin fehlte bei diesem wichtigen Versuch Washingtons, das Bündnis gegen Russland zu stärken.
Henning Hoff meint dazu: „Es ist nicht so, als würden die Amerikaner Deutschland links liegenlassen, aber dieser besondere ‚outreach‘ der Amerikaner nach Polen hat natürlich auch die Bedeutung, dieses Land mit einer Grenze zu Russland in besonderem Maße zu stärken. Polen entwickelt sich sicherheitspolitisch schon zu einem sehr, sehr wichtigen Akteur in Europa.“
Zweifel in den USA am Ukraine-Engagement nehmen zu
Biden hatte in Kiew gesagt, die Ukraine würde „so lange wie nötig“ unterstützt. Auf diese Zusage stützen sich auch die europäischen Verbündeten. Doch in den USA selbst wachsen die Zweifel.
In der amerikanischen Öffentlichkeit nimmt die Unterstützung für ein großzügiges und langandauerndes Ukraine-Engagement ab, und die Republikaner im Kongress nehmen die Stimmung auf, auch für den bald beginnenden Präsidentschaftswahlkampf. Sollte der nächste Präsident ein Republikaner sein, würden die Karten auch in dieser Frage ganz neu gemischt. Dann müssten sich auch die Europäer darauf einstellen, dass sie im Umgang mit Russland mehr auf sich gestellt sein werden.
Biden sieht deutsches China-Geschäft kritisch
Ohnehin betrachtet Washington nicht Russland, sondern China als den eigentlichen großen Rivalen. Die USA befürchten zudem, Peking könne Russland Waffen liefern. Daher versucht Jo Biden, sich gegen China Verbündete zu suchen. Im Gespräch mit Olaf Scholz dürfte das ein heikles Thema werden. Denn Deutschland ist vor allem seit den Zeiten von Bundeskanzlerin Angela Merkel dick im Geschäft mit China, ein Geschäft, das sich Deutschland nicht gern verderben lassen will.
Im Vergleich zu Russland geht es im Handel mit China um weit größere Summen und Abhängigkeiten. Der Handelsaustausch Deutschlands mit Russland hatte nach Angaben der Online-Plattform Statista im Jahr 2021, also kurz vor dem Krieg, ein Volumen von rund 60 Milliarden Euro, der Handel mit China war mit rund 247 Milliarden Euro mehr als viermal so groß; durch die Russland-Sanktionen ist der Unterschied heute noch weit größer.
Henning Hoff beschreibt das Dilemma von Olaf Scholz so: „Auf der sicherheitspolitischen Ebene ist die Einsicht, ohne Amerika geht es nicht, völlig klar. Man glaubt aber anscheinend, dass man auf ökonomischer und handelspolitischer Ebene sich davon wieder lösen kann, und ich glaube, das wird nicht funktionieren. (…) Der Druck wird steigen, sich da klarer zu bekennen, und es gibt erste Anzeichen, dass sich diese Haltung bei Scholz ändert.“
Ein anderes handelspolitisches Thema ist auch der sogenannte Inflation Reduction Act der US-Regierung, ein großes Subventionsprogramm für die heimische Wirtschaft. Die Europäer haben Sorge, dass es die europäische Exportwirtschaft stark benachteiligt. Auch darüber dürften beide Männer reden.
Kurz vor der Reise wurde bekannt, dass es nach dem Gespräch zwischen Biden und Scholz keine Pressekonferenz geben wird, denn, so Regierungssprecher Steffen Hebestreit, die beiden wollten sich „sehr vertraulich miteinander austauschen“. Das sei ihnen „sehr wichtig, und ich verrate nicht zu viel, dass die beiden Herren sich ausdrücklich schätzen“.