Analyse: Welche Rolle spielt Deutschland im NATO-Bündnis?

Von | 13. Juli 2024

Die Lage des westlichen Bündnisses im Jubiläumsjahr ist – zurückhaltend formuliert – komplex. Einerseits gibt es die NATO nun schon seit 75 Jahren. Damit hat sie ein Alter erreicht, das sich im Vergleich zu vielen anderen Bündnissen der Geschichte sehen lassen kann.

Andererseits sieht sich die Allianz von außen bedroht wie lange nicht: durch das russische Regime und auch durch dessen Partner in Peking. Beides wird in der Abschlusserklärung des Gipfels betont. Russland wird darin als „bedeutendste Bedrohung“ für die Sicherheit der Verbündeten bezeichnet, China als „entscheidender Ermöglicher“ des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. 

Wichtige NATO-Staaten sind mit sich selbst beschäftigt

Hinzu kommen innenpolitische Krisen in Schlüsselstaaten der Allianz. Joe Biden kämpft in diesen Tagen um seine politische Zukunft. Der 81 Jahre alte US-Präsident steht wegen der Zweifel an seiner geistigen und körperlichen Fitness unter Dauerbeobachtung. Und dass er bei einem Auftritt zum Abschluss des Gipfels den ukrainischen Präsidenten gemeint, aber den Namen des russischen Machthabers genannt hat, lässt diese Zweifel einmal mehr wachsen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wiederum dürfte auf absehbare Zeit damit beschäftigt sein, angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse nach der erzwungenen Neuwahl des Parlaments eine stabile Regierung zu bilden.

Für den überzeugten Transatlantiker Scholz bedeutet all das, dass ihm und seiner Regierung neue Aufgaben im Bündnis zuwachsen. Der SPD-Politiker ist sich dessen bewusst: Bei seinem morgendlichen Statement vor dem Kapitol erinnert er daran, dass Deutschland der größte NATO-Staat in Europa ist – gemessen an Wirtschaftskraft und Bevölkerung. „Daraus erwächst uns eine ganz besondere Verantwortung.“ Und er verspricht: „Ich werde dieser Verantwortung gerecht werden.“ 

Scholz sieht keinen deutschen Führungsanspruch

Einen ausdrücklichen Führungsanspruch will er daraus aber nicht ableiten. Das stellt Scholz am Tag darauf bei seiner Abschlusspressekonferenz in Washington klar. Deutschland sei eine „Mittelmacht“, und als deutscher Politiker etwas anderes anzunehmen ein Ausdruck von Größenwahn. Im Berliner Regierungsviertel wird dies gern auf die Formel gebracht, Scholz neige eben nicht zu Chefallüren. So tritt er in der Ampelkoalition im Normalfall eher als Moderator denn als Basta-Kanzler auf. 

In der NATO aber ist auch ein Kanzler, der lieber von Verantwortung als von Führung spricht, darauf angewiesen, dass die Verbündeten ihn als glaubwürdig wahrnehmen. Scholz betont an den Gipfeltagen bei jeder Gelegenheit, wie groß der Beitrag Deutschlands zur gemeinsamen Sicherheit in der Allianz sei.

Die wichtigsten Punkte: Die Bundesrepublik erreicht in diesem Jahr voraussichtlich das NATO-Ziel, mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Deutschland steht bei den Militärhilfen für die Ukraine an zweiter Stelle nach den USA. Und die Bundeswehr baut nach und nach eine Brigade in Litauen auf – mit fast 5.000 Soldaten und dem Auftrag, die Ostgrenze des Bündnisses zu schützen.

Ohne Sondervermögen drohen Lücken im Wehretat

Doch auf den zweiten Blick werden Makel in der Erfolgsbilanz sichtbar. Das Zwei-Prozent-Ziel dürfte in diesem und wohl auch im nächsten Jahr erreicht werden, aber nur mithilfe von Milliarden aus dem Sondervermögen für die Bundeswehr. Wie es weitergeht, wenn das Geld aus dem Schuldentopf ausgegeben ist: Darauf gibt es bei diesem Gipfel keine Antwort.

Und der zweite Rang bei der militärischen Unterstützung für Kiew bezieht sich auf absolute Zahlen. Setzt man die Hilfen ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft, schafft es Deutschland nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft nicht unter die ersten zehn. 

Zudem ist unklar, wo die benötigten Milliarden für die Litauen-Brigade herkommen sollen. Der Haushaltsausschuss des Bundestags hat vor Kurzem den Kauf von mehr als 100 Kampfpanzern gebilligt, die unter anderem für den geplanten Großverband vorgesehen sind. Allerdings wurde hierfür eine Verpflichtungsermächtigung erteilt. Damit kann der Bund Großprojekte beauftragen, ohne gleich zahlen zu müssen. Ein gängiges Haushaltsinstrument – und doch finden Kritiker etwa in der Unionsfraktion, die Mittel müssten im regulären Verteidigungsetat abgebildet werden. 

NATO setzt auf Abschreckung gegen Russland

Im Moment spielen solche Fragen eher in Berlin eine Rolle. In Washington sind die Gipfelteilnehmer vollauf damit beschäftigt, die großen Linien zu zeichnen: mehr Abschreckung zum Schutz vor dem russischen Regime und eine – wenn auch vage – Beitrittsperspektive für die Ukraine.

Und schon lange vor dem Spitzentreffen hat Jens Stoltenberg Deutschland mit Lob überhäuft, anlässlich eines Berlin-Besuchs im Frühjahr. „Deutschland ist der europäische Verbündete, der der Ukraine die meiste militärische Unterstützung zukommen lässt“, so der scheidende NATO-Generalsekretär damals im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio. „Deutschland geht mit gutem Beispiel voran.“ 

In Washington hat Scholz Gelegenheit, sich zu revanchieren. Eine „großartige Arbeit“ habe Stoltenberg in den vergangenen zehn Jahren geleistet, sagt der Kanzler mit Blick auf das baldige Ende von Stoltenbergs Amtszeit. Dieser habe die NATO „in einer sehr schwierigen Zeit“ zusammengehalten, stellt Scholz fest.  

Falls Donald Trump die anstehende Präsidentschaftswahl in den USA gewinnt, müsste sich das Bündnis wohl auf noch schwierigere Zeiten einstellen. Und dann könnte die Frage nach der finanziellen Belastbarkeit von Zusagen der Verbündeten wieder in den Mittelpunkt rücken. Eine neue, NATO-kritische US-Regierung dürfte sich auch fürs Kleingedruckte von Verteidigungshaushalten interessieren.