Es ist zwei Uhr morgens am 26. September 2022, als seismische Stationen in Dänemark, Schweden und Deutschland einen schwachen Erdstoß registrieren. Parallel registrieren Mitarbeiter des Pipelinebetreibers Nord Stream einen starken Druckabfall in der gut 1200 Kilometer langen Gasröhre, die Russland und Deutschland verbindet. Als es hell wird über der Ostsee, werden vom Flugzeug aus in der Nähe der dänischen Insel Bornholm riesige Methangasblasen sichtbar, die aus rund 80 Metern Tiefe an die Oberfläche quellen.
Es folgen weitere Erschütterungen. Bald wird klar: Drei der insgesamt vier Stränge der Nord-Stream-Pipeline wurden gesprengt. Ein zentrales Element der deutschen und europäischen Energieinfrastruktur ist damit zerstört. Mit dem Anschlag ist der damals seit gut sieben Monaten tobende Krieg in der Ukraine endgültig auch in deutschen Heizungskellern angekommen. Und die Verletzbarkeit von Öl- und Gaspipelines, von Strom- und Datenleitungen auf dem Meeresboden ist für jeden sichtbar.
Scharfe erste Reaktionen
Wer hinter diesem beispiellosen Sabotageakt steckt, ist auch ein Jahr danach nicht geklärt. Stattdessen tut sich ein weites Feld der Mutmaßungen, Spekulationen, Verdächtigungen auf. Direkt nach dem Anschlag zeigen viele noch mit dem Finger nach Moskau. Das größte deutsche Boulevard-Blatt „Bild“ zitiert damals unter der Überschrift „Pipeline-Krimi in der Ostsee“ norwegische Militärs, die Russland in der Verantwortung für die Explosionen sehen. Der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak schreibt auf Twitter, heute X: „Das großflächige ‚Gasleck‘ an Nord Stream 1 ist nichts anderes als ein von Russland geplanter Terroranschlag und ein Akt der Aggression gegenüber der EU.“
Die offiziellen Stellungnahmen sind scharf: „Jede vorsätzliche Störung der aktiven europäischen Energieinfrastruktur ist inakzeptabel und wird zu den schärfstmöglichen Reaktionen führen“, twittert die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, nach einem Gespräch mit der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen einen Tag nach dem Anschlag.
Deutschland, Dänemark und Schweden ermitteln. Aber von den Ergebnissen dringt nur sehr wenig nach außen. Umso mehr richten sich die Augen auf das, was investigative Journalisten an Informationen veröffentlichen.
Im März 2023 veröffentlicht ein deutsches Investigativ-Team eine Aufsehen erregende Recherche: Demnach weisen Spuren in die Ukraine. Im Bericht spielt die 15-Meter-Segelyacht „Andromeda“ eine zentrale Rolle. Der Recherchekooperation von Sendern der ARD und der Wochenzeitung „Zeit“ zufolge sollen fünf Männer und eine Frau am 6. September 2022, knapp drei Wochen vor den Anschlägen, mit der Segelyacht vom Ostseehafen Warnemünde aus in See gestochen sein. Ermittler des Bundeskriminalamts sollen an Bord des Schiffes Spuren von Sprengstoff an Bord gefunden haben – vom gleichen Sprengstoff, der auch auf dem Grund der Ostsee nachgewiesen worden sei.
Tat eines ukrainischen Kommandos?
Anfang Juni erscheint ein Bericht in der „Washington Post“, der diese Version stützt. Demnach seien europäische und amerikanische Geheimdienste bereits im Juni 2022 vor Anschlagsplänen eines ukrainischen Kommandos auf die Nord-Stream-Pipelines gewarnt worden. Die Geheimdienstinformationen sind detailliert: Es ist dezidiert von sechs Personen die Rede, von Tauchern, von einer Yacht. Laut „Washington Post“ soll das Kommando direkt dem obersten ukrainischen Militär unterstanden haben, General Walerij Saluschnyj. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj aber sei nicht über die Pläne informiert gewesen.
Auch ein über 20-köpfiges Rechercheteam des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ und des Fernsehsender ZDF kommt nach einer umfangreichen Recherche Ende August zu dem Schluss: „Die Spuren führen in eine Richtung: in die Ukraine.“ Zu dem Team gehört auch Wolf Wiedmann-Schmidt. Gegenüber der DW ergänzt der Journalist: „Die Ermittler haben nichts gefunden, was beweisen könnte, dass Russland dahinterstecken könnte, oder noch weniger, dass die USA hinter dem Angriff stecken könnten. Dafür gibt es überhaupt keine Beweise.“
Im Februar hatte die US-amerikanische Reporterlegende Seymour Hersh in einem weit verbreiteten Bericht die USA als Urheber der Pipeline-Sprengung verdächtigt. Hershs Geschichte wies jedoch Ungereimtheiten auf. Und vor allem: Der US-Reporter stützte seinen Bericht nur auf eine einzige und obendrein anonyme Quelle.
US-Drohungen gegen Nord-Stream
Allerdings konnte Hersh auf Äußerungen von US-Präsident Joe Biden beim Antrittsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Februar 2022 verweisen, kurz vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Da hatte Biden vor der Presse gesagt: „Wenn Russland einmarschiert, wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“
Ähnlich hatte sich zuvor bereits die Spitzendiplomatin Victoria Nuland geäußert: „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird Nord Stream 2 auf die eine oder andere Weise nicht vorankommen.“ Nuland hatte sich zudem Anfang 2023 offen gefreut, dass Nord Stream nur noch „ein Haufen Schrott auf dem Meeresboden“ sei.
Ihr Chef, US-Außenminister Anthony Blinken, hatte bereits Anfang Oktober 2022, wenige Tage nach dem Anschlag, davon gesprochen, die Nord-Stream-Explosionen böten „eine enorme strategische Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie zu beenden.“ Die deutsch-russische Energiepartnerschaft war den USA schon lange vor dem Krieg in der Ukraine ein Dorn im Auge – so wie der Ukraine und anderen Staaten Europas. Den Bau von Nord Stream 2 hatte Washington lange zu verhindern versucht und durch Sanktionen erheblich verzögert.
Radoslaw Sikorski, polnischer Europaabgeordneter und ehemals polnischer Verteidigungs- und auch Außenminister, ließ sich vermutlich wegen dieser Gemengelage kurz nach dem Anschlag zu einem Tweet hinreißen mit dem Bild einer in der Ostsee aufsteigenden Gasblase und dem Text: „Danke, USA!“ Kurze Zeit später wurde der Tweet gelöscht.
Russische Motive
Aber auch Russland hätte ein Motiv, die Gasröhre zu zerstören: Weil das russische Unternehmen Gazprom im Sommer 2022 bereits den Gastransports durch Nord Stream 1 gestoppt hatte – und damit seine vertraglichen Lieferverpflichtungen verletzt hat. Das hätte die Tür für Regressforderungen der westlichen Partner geöffnet. Der Gazprom-Kunde Uniper etwa hat ein Schiedsgerichtsverfahren gegen Gazprom eingeleitet, mit Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe. Durch die Zerstörung der Pipeline könnte sich Gazprom nun aber auf „höhere Gewalt“ berufen – und die Regressforderungen wären hinfällig. Diese Theorie setzt allerdings voraus, Russland würde sich überhaupt an die Urteile internationaler Gerichte halten.
Fürs Völkerrecht ein Kriegsverbrechen
Völkerrechtlich wäre der Nord-Stream-Anschlag selbst im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersetzung nach dem Kriegsvölkerrecht ein rechtswidriger Akt, erläutert der Bonner Völkerrechtler Stefan Talmon gegenüber der DW. „Denn bei den Nord-Stream-Pipelines handelt es sich um ein ziviles Infrastrukturprojekt. Nach dem Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist die Zerstörung ziviler Infrastruktur nicht nur ein Völkerrechtsverstoß, sondern sogar ein Kriegsverbrechen.“ Zumindest dann, wenn einem der beiden kriegführenden Staaten Russland und Ukraine die Tat nachgewiesen werden könnte.
Hätte ein Drittstaat die Gasröhren gesprengt, führt der Völkerrechtsprofessor aus, „wäre das Ganze nicht im Rahmen des Kriegsvölkerrechts zu bewerten, sondern dann wäre das letztlich ein terroristischer Anschlag“. Mögliche Schadensersatzforderungen sieht Talmon kritisch, wegen der sogenannten Staatenimmunität: „Vor einem nationalen Gericht könnten sich sowohl Russland als auch die Ukraine oder ein dritter Staat auf diese Staatenimmunität berufen, die auch für solche rechtswidrigen Anschläge gilt.“
Ob es je zu einem Prozess kommt, ist allerdings offen. Zwar spricht sich Bundeskanzler Olaf Scholz für einen Gerichtsprozess in Deutschland zu den Nord-Stream-Anschlägen aus. Zwar hofft Bundesinnenministerin Nancy Faeser, dass der Generalbundesanwalt genügend Anhaltspunkte ermittelt, um die Täter anzuklagen. Aber angesichts der Hinweise auf eine mögliche Urheberschaft ukrainischer Kräfte macht der Berliner Investigativ-Journalist Wiedmann-Schmidt ganz andere Erfahrungen bei der Begegnung mit Regierungsvertretern: Für ihn hat es den Anschein, als wollten sie das Thema vermeiden. „Ich meine, sie können ein so schweres Verbrechen nicht einfach abtun. Aber sie können auch nicht die Unterstützung für die Ukraine in einem Krieg gegen Russland aussetzen. Das ist keine Option. Also vermeidet hier in Berlin jeder, so gut er kann, die Frage nach den Konsequenzen.“
Inzwischen hat die schwedische Staatsanwaltschaft angekündigt, ihre Ermittlungen bis zum Jahresende abzuschließen. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.