Drohnenattacken auf Moskau: „Das ist erst der Prolog“

Von | 29. August 2023

Der erste Drohnenangriff auf Moskau war ein spektakulärer Treffer: Eine nach der anderen flogen zwei kleine Fluggeräte ungehindert zum Kreml und trafen dort die Kuppel des Senatspalasts. Das war ein vor allem symbolträchtiger Stich ins Herz der russischen Hauptstadt, ausgeführt in der Nacht am 3. Mai, höchstwahrscheinlich von der Ukraine. Seitdem werden die Angriffe auf Moskau immer häufiger: Allein das Geschäfts- und Hochhausviertel Moskau City, wo unter anderem zwei russische Ministerien ihren Sitz haben, trafen die Drohnen bereits viermal. In der vergangenen Woche wurde Moskau fast täglich von ukrainischen Drohnen heimgesucht. Am 28. August wurde ein aus dem Osten kommendes unbemanntes Objekt nahe Moskau abgeschossen, wie das russische Verteidigungsministerium am Montag meldete.

„Signalwirkung“

Die Ukraine verfolgt bei ihren Drohnenattacken eine Reihe von Zielen, sagen Experten. Eines davon bestehe darin, „eine medienwirksame Botschaft zu senden – sowohl an die Welt als auch an die eigenen Bürger -, dass die Ukraine nicht untätig ist, sondern auf die russische Aggression reagiert“, erklärt der israelische Militärexperte Sergey Migdal im DW-Interview.

Ulrike Franke, Expertin des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Paris, weist auf einen weiteren Punkt hin: Man sende ein Signal, dass der Krieg nicht weit weg sei, sondern nach Russland kommen könne, so Franke gegenüber der DW.

Moskau Business Centre, Archivfoto
Moskau City: die Geschäfts- und Hochhausviertel werden besonders oft von Drohnen heimgesuchtBild: Valery Sharifulin/Tass/dpa/picture alliance

Man übe mit den Angriffen zudem Druck auf die russische Führung aus, mehr Flugabwehrsysteme von der Front Richtung Moskau abzuziehen, ergänzt Migdal. Ein Ziel sei auch, unüberlegte heftige Reaktion zu provozieren, zum Beispiel „aus Frust einen türkischen Frachter zu versenken, was Russland dann große Probleme mit Erdogan bringen würde, welche Moskau eigentlich vermeiden will“.

Moskaus Flugverkehr lahmlegen – funktioniert das?

Die Drohnenangriffe zwingen Moskaus Behörden zunehmend, den Luftraum über der Region zu sperren. Auch am Montag wurde der Flugverkehr in den Flughäfen in der russischen Hauptstadt zeitweise ausgesetzt. „Die Angriffe auf Moskau zielen nicht darauf ab, eine Million Menschen zu töten. Das ist weder notwendig noch sinnvoll. Ziel ist es, den Luftraum und die Logistikwege zu blockieren, Flughäfen und den Transport lahmzulegen. Funktioniert das? Zweifellos“, meint der israelische Militärexperte Igal Levin. Als erste Fluggesellschaft hat Turkmenistan Airlines ihre Flüge nach Moskau vorerst bis auf Weiteres gestoppt.

Den Schaden für Logistik und Luftverkehr in Russland kann man noch nicht abschätzen, da Flughäfen mittlerweile weltweit wegen der Sichtung von Drohnen ihren Betrieb zeitweise aussetzen müssen, sagt hingegen Ulrike Franke. Doch es könnte durchaus kritisch werden, sollte eine Drohne einen Passagierflughafen in Moskau attackieren und dabei Schaden an Flugbahnen, Terminals oder gar Ziviljets anrichten. „Ich sage voraus, dass es dazu führen wird, dass alle ausländischen Fluggesellschaften Moskau bis zum Ende des Krieges meiden werden. Erste fangen damit schon an“, prophezeit Sergej Migdal.

„Löcher“ in der Luftabwehr um Moskau

Über die Frage, wie erfolgreich die ukrainischen Drohnenangriffe sind und wie gut die russische Luftabwehr um Moskau funktioniert, sind sich Experten angesichts der unklaren Faktenlage uneinig. „Wir wissen nicht, wie viele Drohnen tatsächlich abgefangen werden“, sagt zum Beispiel Ulrike Franke. Es wäre sicherlich falsch, die Situation so darzustellen, als wären „diese Angriffe easy-peasy“ durchzuführen, so die Expertin des ECFR aus Paris. Sie glaubt, dass es sich um ein „Katz-und-Maus-Spiel“ handelt, in dem sich die beiden Seiten ständig an die Möglichkeiten der jeweils anderen Seite anpassen.

Allerdings sei schon die Tatsache, dass die Drohnen Moskau erreichen, „ein Problem“ für Russland, sagt der israelische Militärexperte David Scharp im Gespräch mit der DW. „Idealerweise würde man solche Attacken noch an der Grenze zur Ukraine oder auf dem offenen Terrain unterdrücken und nicht erst in der Stadt“, erklärte Scharp.  

Gebäude des Verteidigungsministeriums in Moskau mit dem Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System "Panzir"
Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System „Panzir“ auf dem Dach des Verteidigungsministeriums in MoskauBild: picture alliance / NurPhoto

Die Lücken in der Moskauer Luftabwehr blieben bestehen, obwohl man Moskau schon zu Sowjetzeiten zur bestgesicherten Region in Russland hätte machen wollen, meint der ukrainische Militärexperte Michail Samus aus Prag. Die russische Luftabwehr sei auf „traditionelle Ziele“ ausgerichtet, also beispielsweise ballistische Raketen, und weniger auf kleine Flugobjekte wie die ukrainischen Drohnen UJ-22 und Bober („Biber“). „Solche Kleinobjekte sind überwiegend nicht aus Metall, sondern aus Verbundwerkstoffen produziert, fliegen komplexe Flugbahnen und sind somit generell eine Herausforderung für jedes Luftabwehrsystem“, erklärt der Experte.

Lücken in der Luftabwehr gibt es auch im weiteren Umkreis der russischen Hauptstadt, sagen Experten. „Um ein Ziel abzuschießen, muss man es zunächst identifizieren. Es wird von Radarstationen erfasst – im Idealfall, wenn diese in einem gemeinsamen Radarfeld vereint sind. Wir können aber davon ausgehen, dass Russland nicht über ein solches Feld verfügt. Die Luftabwehrsysteme erfassen zwar einzelne Objekte, aber nicht das gesamte Gebiet“, sagte Samus der DW. Daher starte die ukrainische Seite zunächst eine Drohne, um einzelne Radarstationen aufzudecken, und schicke dann, nachdem sie Lücken gefunden hat, Drohnen „tief in das russische Territorium, wo die Sättigung der Luftabwehrsysteme geringer ist als in den Grenzgebieten“, so Samus weiter.

Wenn eine Drohne Moskau bereits erreicht hat, habe man nur „Systeme der letzten Chance“ zur Verfügung, wie zum Beispiel das russische Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System „Panzir“, sagt Sergej Migdal. Der Luftabwehr blieben aber nur 15 bis 30 Sekunden Zeit, um die Drohne zu eliminieren, bevor diese ihr jeweiliges Ziel erreicht, erklärte der Experte. 

Was, wenn 300 Kampfdrohnen kommen?

Der Ukraine würden offensichtlich Raketen mit großer Reichweite wie die russischen Lenkwaffen des Typs „Kalibr“ oder gar  „Kinschal“-Hyperschallraketen fehlen – die Drohnenangriffe seien daher nur die „Taktik der schwächeren Seite“, sagt der Israeli Sergej Migdal, der in London lebt. Schließlich tragen die meisten dieser Waffen nur wenige Kilo Sprengstoff. „In dem Sinne ist die Bedeutung dieser Angriffe relativ gering: Sie werden weder russische Flugplätze, noch die russische Luftwaffe eliminieren. Im praktischen Sinne lohnen sich Drohnenangriffe an der Frontlinie mehr

Der spektakuläre Beginn der Drohnenangriffe auf Moskau am 3. Mai
Der spektakuläre Beginn der Drohnenangriffe auf Moskau am 3. MaiBild: Ostorozhno Novosti/REUTERS

Trotz dieser relativ kleinen Schlagkraft erwarten Experten, dass die Anschläge auf die russische Hauptstadt mit Hilfe von Drohnen eher zunehmen werden. „Das hier ist erst der Prolog“, sagt etwa David Scharp. „Wenn es sich aber um einen Angriff mit gleichzeitig 25 Maschinen in der Luft handelte, wäre das der erste Akt“.

Auch Sergej Migdal denkt weiter: „Was, wenn nicht drei, sondern 33 oder 300 Kampfdrohnen von allen Seiten kommen?“ Die Ukraine könnte mit solchen Schwarmattacken beispielsweise Moskauer Flughäfen dauerhaft außer Betrieb setzen, was ein großer Sieg für Kiew und eine Niederlage für Russland wäre, so Migdal. Diese Situation würde den Kreml überlegen lassen, welche Richtung Russland weiter einschlagen will, sagt Midgal und lässt offen, „ob zu Kompromissen und Verhandlungen oder ohne Rücksicht und mit voller Wucht zu einer plötzlichen unangemessenen Reaktion“.

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