Die Weltwirtschaft dürfte in diesem Jahr nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) etwas kräftiger zulegen als noch im April vermutet. Der IWF teilte am Dienstag in Washington mit, seine Prognose um 0,2 Punkte auf 3,0 Prozent anzuheben. Es gebe aber weiter viele Probleme, sagte IWF-Chefökonom Pierre-Olivier Gourinchas. „Es ist zu früh, um zu feiern.“ Vor allem die hohe Inflation macht dem IWF Sorgen. Die Finanzorganisation empfiehlt daher weitere Zinsanhebungen. Getrieben wird das Wachstum vor allem von großen Schwellenländern wie China und Indien. Deutschland schneidet im Vergleich mit anderen Industrienationen außerordentlich schlecht ab – als einziges großes Land mit einer dieses Jahr wohl schrumpfenden Wirtschaftsleistung.
Für nächstes Jahr rechnet der IWF dann global ebenfalls und unverändert mit einem Wachstum von 3,0 Prozent. Zum Vergleich: Der langjährige Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2019 liegt bei 3,8 Prozent. 2022 waren es 3,5 Prozent, 2021 als Erholung von der akuten Corona-Krise sogar 6,3 Prozent. Die Euro-Zone spürt die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine noch immer am deutlichsten. Ein stärkerer Konsum und deutliche Impulse durch den Tourismus haben den IWF aber bewogen, mehr Wachstum für Italien und Spanien zu erwarten.
Deutschland leide dagegen unter der gegenwärtigen Schwäche der Industrie als Folge der hohen Energiepreise, so der IWF. Außerdem dürfte die deutsche Exportindustrie den vergleichsweise schwachen Welthandel spüren, der 2023 und 2024 deutlich unter dem langjährigen Schnitt bleiben wird. Für Deutschland sagt der IWF dieses Jahr ein Minus von 0,3 Prozent voraus, 2024 dann wieder ein Plus von 1,3 Prozent.
Weitere Zinserhöhungen nötig
Gourinchas warnte die Notenbanken davor, zu früh vom Kurs der Zinserhöhungen abzukommen. Die Kerninflation müsse deutlicher und nachhaltiger nach unten gebracht werden. „Da sind wir noch nicht.“ Die weltweite Inflation werde in diesem Jahr auf 6,8 (2022: 8,7) Prozent und 2024 dann auf 5,2 Prozent zurückgehen, damit aber noch hoch bleiben. „Eindeutig ist der Kampf gegen die Inflation noch nicht gewonnen.“ Gerade die Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel erweise sich als hartnäckiger als gedacht. Immerhin sollte die Teuerungsrate in drei von vier Ländern auf dem Rückzug sein.
Die Finanzpolitik dürfe die Inflation nicht anheizen, sondern müsse wieder Puffer aufbauen, die in den vergangenen Jahren genutzt worden seien, so der IWF. Potenzielle Risiken seien erneute Turbulenzen in der Finanzbranche, Überschuldungen ganzer Staaten sowie eine schwächere Entwicklung Chinas, etwa ausgelöst durch Probleme auf dem Immobilienmarkt.
Prognose für Russland günstiger
Die Perspektiven der russischen Wirtschaft haben sich nach Einschätzung des IWF trotz der im Zuge des Angriffs auf die Ukraine verhängten Sanktionen deutlich verbessert. Für das laufende Jahr rechnet der IWF mit einem Wachstum von 1,5 Prozent. Das sind 0,8 Punkte mehr als noch im April vermutet. Von allen großen Ländern hat nur Brasilien eine noch stärkere Veränderung nach oben für 2023 erfahren. Im kommenden Jahr dürfte die russische Wirtschaft dann – wie bisher vom IWF erwartet – um 1,3 Prozent zulegen.
Laut Währungsfonds ist das erste Halbjahr 2023 konjunkturell überraschend gut gelaufen in Russland. Die Experten verwiesen in ihrem neuen Weltwirtschaftsbericht auf die jüngsten Daten aus dem Einzelhandel, der Baubranche sowie zur Industrieproduktion. Außerdem wirkten sich hohe staatliche Ausgaben positiv aus.
Allerdings sieht es im längerfristigen Vergleich weniger rosig aus. Michael Rochlitz, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bremen, hatte in einer Publikation von Ende Mai argumentiert, dass Russlands Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung seit 2009 abnehme. „Anfang der 2000er Jahre war der durchschnittliche Bürger Russlands noch ungefähr dreimal so reich wie ein durchschnittlicher Bürger Chinas; seit diesem Jahr sind zum ersten Mal in der Geschichte die Bürger Chinas reicher als die Bürger Russlands.“ Die Automobilproduktion als auch die Fertigung pharmazeutischer Produkte seien in Russland eingebrochen. „Gleichzeitig ist der Rüstungssektor stark gewachsen. Jeder im Jahr 2022 produzierte und anschließend in der Ukraine zerstörte Panzer wird zum Bruttoinlandsprodukt dazugezählt, obwohl er nichts zum Wohlstand der russischen Bevölkerung beiträgt.“
Außerdem verliere Russland zahlreiche Fachkräfte, etwa aus der IT-Branche, so Rochlitz. „Russland hat somit in den Zukunftsfeldern des 21. Jahrhunderts – Informationstechnologie, Künstliche Intelligenz und Quantencomputing – durch das Handeln der eigenen Regierung höchstwahrscheinlich für immer den Anschluss verloren, obwohl es vor 2022 in diesen Bereichen nicht allzu schlecht aufgestellt war.“