Ukraine: Wie sich russische Kriegsblogger blamierten

Von | 13. Mai 2023

Es ist ein seltener Fall. Die russische Propaganda hat seit Jahren das Image einer effektiven, gut geölten und fast immer zuverlässigen Maschinerie. Beim Warten auf die groß angekündigte ukrainische Gegenoffensive hat diese Maschinerie am Donnerstagabend offenbar versagt. Gleich mehrere sogenannte Warblogger, die eigentlich Kriegspropaganda betreiben, verkündeten im Telegram-Messanger den Beginn dieser mit Spannung erwarteten ukrainischen Offensive. In ihren Meldungen über lokale Erfolge der ukrainischen Armee spürte man Befürchtungen eines militärischen Durchbruchs und möglichen Verlusts der von Russland besetzten Gebiete.

Behauptungen, die Ukraine habe die Offensive begonnen, gab es bereits in den Tagen davor. Sie stammten jedoch von Bloggern mit zehntausenden Followern. Diesmal waren es diejenigen, die eine Nummer größer sind, die Oberliga.

Der Ton ihrer Berichte war keine Panik, schien aber sehr nah dran. Als sich herausstellte, dass es doch keine breite Offensive gewesen war, füllten sich die sozialen Netzwerke mit Aufrufen, keine Panik zu verbreiten. Manch einer musste sich rechtfertigen und das Publikum beruhigen. Einige Beispiele.

Wie Kriegsblogger beinahe Panik gesät hätten

Der 39-jährige Jewgeni Poddubny ist langjähriger Mitarbeiter der staatlichen Fernsehkanäle Russia-1 und Russia-24. Sein Schwerpunkt: Kriegsberichterstattung. Am Donnerstagabend schrieb Poddubny über einige erfolgreiche lokale ukrainische Offensiven im Osten und seine Erwartungen, dass auch im Süden der Druck auf russische Stellungen steigen dürfte. „Wir nehmen an, die Gegenoffensive hat begonnen“, schrieb Poddubny an seine rund 900.000 Follower bei Telegram.

Seine Einschätzung teilte ein anderer bekannter Propagandist – Semjon Pegow, Gründer des Projekts WarGonzo, dem weit über eine Million Leser folgen. Noch einer der Top Ten der russischen Warblogger-Szene, der Reporter des Boulevardblattes „Komsomolskaja Prawda“, Alexander Koz, zog mit. Er habe zunächst Zweifel gehabt, als er über den Beginn der ukrainischen Gegenoffensive und Verlegungen ukrainischer Panzer von Charkiw Richtung Grenze zu Russland hörte. Er habe an Desinformation seitens der Ukraine gedacht, wenn „das nicht unter anderem bekannte, geprüfte Leute“ geschrieben hätten, so Koz. Sein Fazit: „Wie gesagt, es hat begonnen.“ Koz teilte unter anderem den Aufruf eines anderen Telegram-Kanals an russische Soldaten: „Kämpfer! Wir haben darauf einige Monate gewartet. Es gibt keinen Rückzugsweg. Hinter dir ist deine Familie.“

 

Doch nach ein paar Stunden wurden solche Meldungen redigiert, das Wort „vielleicht“ tauchte auf. „So, Kameraden. Bitte seid ruhiger. Ich habe nicht geschrieben, dass der Gegner nach Belgorod marschiert. Lesen Sie genau. Es geht um aktive Bewegungen der Waffen und Kriegstechnik im Gebiet Charkiw“, schrieb Poddubny. Zuvor meldete er Bewegungen ukrainischer Kolonnen mit Kriegstechnik „in Richtung der Grenze mit dem Gebiet Belgorod (Russland, Anm. d. Red) und Richtung Kupjansk (Ukraine, nahe der Frontlinie, Anm. d. Red). Seine nächste Nachricht sieht aus wie ein Versuch, sich zu rechtfertigen und das Publikum zu beruhigen: „Es gibt viele, die die faktische Lage für Panik missbrauchen wollen. Doch ich habe keinen Anlass zur Panik gegeben. Eher zu Wachsamkeit und sportlicher Wut.“

Warum die Propaganda versagt hat

Bereits spät am Abend kreisten in sozialen Medien ähnliche Botschaften von verschiedenen Frontabschnitten. Darin hieß es, die Lage sei unter Kontrolle. Versuche der ukrainischen Streitkräfte, die russischen Linien zu durchbrechen, seien begrenzt oder abgewehrt worden. Das russische Verteidigungsministerium beeilte sich, den Warbloggern zu widersprechen: „Berichte einiger Telegram-Kanäle, wonach es verschiedene ‚Durchbrüche der Verteidigung‘ an diversen Abschnitten gegeben habe, stimmen nicht.“

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj neben einem Soldaten, PortraitbildEine Gegenoffensive braucht offenbar mehr Zeit: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

Die ukrainische Seite lässt sich nicht in die Karten schauen. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte zuvor in einem Interview, das Land brauche mehr Zeit, um die Gegenoffensive vorzubereiten. Einige Kriegsblogger sahen darin ein Täuschungsmanöver und glaubten, dass Gegenteil sei der Fall.

Beobachter sehen zwei mögliche Gründe für die Fehler russischer Propaganda. Der eine ist die Anspannung nach monatelangem Warten auf die Gegenoffensive. Offenbar sind die Warblogger nicht sicher, dass die russische Armee den Schlag halten kann. Der zweite Grund liegt am Beruf selbst. Es ist ihr Wunsch und ihre technische Möglichkeit, als einer der ersten über wichtige Breaking News zu berichten. Diese Dynamik hat den Propagandisten offenbar einen Bärendienst erwiesen.

„Der russischen Führung und dem Verteidigungsministerium gelingt es immer weniger, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass an der Front in der Ukraine alles nach Plan verläuft“, sagte in einer Einschätzung für die DW die Russland-Expertin Susanne Spahn. „Militärische Rückschläge und die lange Dauer des Einsatzes sind erklärungsbedürftig – die offizielle Linie bietet aber keine Erklärung an, da diese Misserfolge öffentlich nicht eingestanden werden können.“ Es sei nicht erstaunlich, so Spahn, „dass auch ‚Kriegskorrespondenten‘ bei Telegram ihre harte Linie nicht mehr konsequent durchhalten. Das Dementi des Verteidigungsministeriums wirkt wenig überzeugend, sondern eher wie ein Versuch, den Imageschaden zu begrenzen.“

Russische Kriegsblogger – unfreiwillige Hilfe für die Ukraine?

Die Berichte haben Kritik und Sarkasmus in russischen sozialen Netzwerken hervorgerufen – und Freude in den ukrainischen. Ihr Fehler habe gezeigt, in welchem psychologischen Zustand Teile der russischen Gesellschaft seien, so der Tenor. Außerdem haben sie die eigene Glaubwürdigkeit untergraben und  die russische Armee desorientiert.

„Die lieben Russen haben kapiert, wie sie bei Telegram belogen werden“, giftete ein russischer Blogger, der den Krieg leidenschaftlich unterstützt. Er warf anderen Warbloggern, aber auch Medien, Versagen vor. Der ukrainische Journalist Andrij Zaplijenko schlug vor, russischen Warbloggern eine Auszeichnung des Oberbefehlshabers Walerij Saluschnyj zu geben – „für informationelle Unterstützung der ukrainischen Armee“.

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