„Selbst wenn es meine Wohnung noch gäbe, weiß ich nicht, ob ich dort leben könnte – höchstwahrscheinlich nicht“, sagt Viktoria*. Vor einem Jahr ist sie aus Mariupol nach Kiew geflohen. Nach russischen Bombenangriffen war ihr Wohnhaus ausgebrannt. Doch ihr Vater blieb in Mariupol zurück. Dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand und Viktoria entschied hinzufahren, um ihm zu helfen.
Zurück in Kiew berichtet sie der DW von ihrer siebentägigen Odyssee in die zerstörte Heimat. Um die Front zu meiden, wollte Viktoria über Belarus nach Russland einreisen, doch in Brjansk wiesen die russischen Grenzbeamten sie schlicht wegen ihres ukrainischen Passes ab, in Smolensk habe ihr ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB gesagt: „Wir halten Ihren Aufenthalt in Russland für unangemessen“, nachdem er in Viktorias Handy Bilder von ukrainischen Briefmarken mit patriotischen Motiven gefunden hatte. Schließlich gelang es Viktoria, von Lettland aus nach Russland einzureisen. Einmal dort, sei das Vorankommen einfacher gewesen. Da es in Mariupol an Fachärzten mangele, habe sie mit ihrem Vater ins russische Taganrog fahren müssen, um ihn operieren zu lassen. Auf dieser Fahrt habe es bei mehreren Passkontrollen an verschiedenen Checkpoints keine Problem gegeben.
„Es ist ein Kampf ums Überleben“
Mehr beschäftigt Viktoria ohnehin, was sie in Mariupol gesehen hat: Ein Jahr nach den massiven russischen Bombenangriffen habe sich die Stadt kaum verändert: „Es wird zwar gebaut, aber sie haben ja alles selbst vernichtet! Sie reißen nun die zerstörten Häuser ab und bauen an anderen Orten neue.“ Sie habe den Eindruck, dass nur noch ein Drittel der früheren Einwohner in der Stadt geblieben ist, sagt Viktoria.
Arbeit gebe es praktisch nur auf Baustellen, im kommunalen Bereich und im Handel. Viele Bauarbeiter kämen aus Russland, und sie erhielten höhere Löhne als Einheimische. Die großen Hütten- und Stahlwerke, einst die wichtigsten Arbeitgeber der Stadt, wurden laut Eigentümer Metinvest bereits zu Beginn der russischen Großoffensive am 24. Februar vorübergehend stillgelegt und sind es bis heute.
Sozialleistungen gebe es gar keine, sagt Viktoria, auch nicht für Arbeitslose. Und die Lieferungen humanitärer Hilfe seien deutlich zurückgegangen. „Früher wurden Lebensmittelpakete an alle verteilt, aber jetzt nur noch an Kinder und Personen, die älter sind als 65 Jahre. Die Menschen sind depressiv. Es ist ein Kampf ums Überleben“, sagt Viktoria.
Dabei hätten die Russen nach Verkündung der Annexion der südlichen Gebiete der Ukraine im vergangenen Herbst Rentenerhöhungen versprochen. „Erst erhielten alle Rentner einheitliche Bezüge in Höhe von 10.700 Rubel (ca. 120 Euro, d.R.)“, sagt Viktoria. Später seien ihre ukrainischen Renten verdoppelt und in Rubel umgerechnet worden. Nun aber müssten Rentner einen russischen Pass vorweisen, um von Russland Rente zu erhalten, das haben verschiedene Zeugen unabhängig von einander der DW berichtet. Erschwerend komme hinzu, dass die Preise in Mariupol höher seien als in dem von Kiew kontrollierten Teil des Landes und auch höher als in Russland. Nur Hühnereier und Benzin seien günstiger.
Ohne russischen Pass kein Job
„Die Menschen sind niedergeschlagen, man merkt, dass sie es alle schwer haben. Viele trinken“, berichtet auch Natalja*, die in einem Dorf am Stadtrand von Mariupol lebt. Vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hatte sie ein eigenes Geschäft und verkaufte Fleisch und Milch. Doch viele ihrer Kunden sind geflohen oder haben kein Geld. Da ihr Auto durch Beschuss ausgebrannt ist, kann sie ihre Waren nicht nach Mariupol bringen.
Natalja klagt über hohe Preise und niedrige Löhne: „Zuerst bekamen die Leute im Schnitt 30.000 Rubel (ca. 330 Euro, d.R.). Dann wurden die Gehälter um mehr als die Hälfte gekürzt und über anderthalb Monate nicht ausgezahlt.“
Gleichzeitig steige der Druck, für Ukrainer, russische Pässe anzunehmen: „Um offiziell arbeiten zu können, braucht man einen Pass, und um einen zu bekommen, muss man anstehen, verloren gegangene Dokumente neu ausstellen und ins Russische übersetzen lassen.“ Als ein Bekannter mit ukrainischem Pass neue Papiere für sein Auto brauchte, sei ihm gesagt worden: „Sie sind hier Ausländer.“ Und er habe den Punkt „ausländischer Pass“ ankreuzen müssen, erzählt Natalja.
All dem zum Trotz sei die Stimmung in ihrem Ort überwiegend pro-russisch, meint die Ukrainerin: „Die Leute glauben der russischen Propaganda, laut der die Ukraine Mariupol zerstört hat. Eine Freundin hat eine Wohnung in Mariupol bekommen und ist Russland dafür sehr dankbar. Aber es gibt auch solche, die keine Bleibe haben und sich nicht für eine Wohnung anstellen, weil sie von den Besetzern nichts annehmen wollen.“
Weiterhin Angst vor Mobilmachung
Von einer Mobilmachung für den Krieg gegen die Ukraine in Mariupol will Natalja nichts mitgekommen haben. Doch in anderen Städten und Dörfern der Region Donezk, die seit 2014 besetzt sind, fürchten die Männer immer noch, eingezogen zu werden, weil es dort kurz vor Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 eine Mobilmachung im Donbass gegeben hatte.
Einer von ihnen ist Wladyslaw* aus der Stadt Tschystjakowe: „Ich habe mich fast ein Jahr zu Hause vor der Mobilmachung versteckt. Hauptsache war, dass ich nicht in den Krieg gegen mein eigenes Land geschickt werde.“ Wladyslaw glaubt, die Mobilmachung gehe weiter, nur langsamer.
Wie Natalja glaubt auch Wladyslaw, dass die meisten Menschen in der Region Russland treu seien, aber: „Es herrscht nicht die Meinung, dass hier Russland ist. Schließlich sagen alle: ‚Ich fahre nach Russland, um Lebensmittel zu kaufen.'“