Israel: Jahrestag im Schatten der Verfassungskrise

Von | 26. April 2023

Jeden Samstag ist Yehudit Elkana auf einer der Demonstrationen gegen die umstrittene Justizreform der rechten Regierung in Jerusalem zu finden – so wie tausende Israelis mit ihr. „Ich bin eigentlich von Natur aus Optimistin,“ sagt die pensionierte physikalische Chemikerin und Menschenrechtsaktivistin, „aber momentan kann ich es nicht sein. Doch wir werden nicht klein beigeben.“

In den letzten vier Monaten hat sich die Spaltung der Gesellschaft zwischen Gegnern und Befürwortern des umstrittenen Plans weiter vertieft. Die Gegner bezeichnen die Justizreform als Bedrohung der israelischen Demokratie. Die Befürworter halten sie für notwendig, um die aus ihrer Sicht zu starke Macht des Obersten Gerichts einzuschränken.

Israel | Proteste gegen die JustizreformYehudit Elkana (links) geht regelmäßig auf die Demonstrationen gegen die geplante Justizreform

Augenzeugin der Geschichte Israels

Elkana, 1935 in Jerusalem geboren, gehört zu der Generation von Israelis, die das Land mit aufgebaut haben. Ihre Eltern waren Anfang der 1930er Jahre aus Nazi-Deutschland geflohen und mussten sich im damaligen Britischen Mandatsgebiet Palästina ein neues Leben aufbauen. In all den Jahren seither hat sie viele Krisen und Kriege miterlebt, aber auch aus ihrer Sicht hoffnungsfrohe Momente, etwa die Ausrufung des Staates Israel durch David Ben Gurion im Mai 1948.

„Ich erinnere mich noch gut an die Fotos in den Zeitungen, an die Glücksgefühle, daran, wie wir auf dem Rothschild-Boulevard getanzt haben. Als Kind habe ich den Beginn des Krieges, der direkt danach ausbrach, nicht gleich gefühlt.“

Heute, 75 Jahre später, macht sich Elkana große Sorgen. Der Streit um die Justizreform „könnte zu einem Bürgerkrieg führen. Keine Seite wird einlenken. Es ist sehr traurig“.

Israel | Proteste gegen die Justizreform„Rettet die Demokratie“ steht auf einigen der Plakate auf dieser Demonstration in Jerusalem

Israel befinde sich am Scheideweg, meint auch Tomer Persico, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Shalom Hartman Institut in Jerusalem. Und das nicht nur wegen der umstrittenen Justizreform.

„Verschiedene Themen, die für lange Zeit unterdrückt oder ignoriert wurden, kommen nun an die Oberfläche. Die Offenheit von Israels Gesellschaft, das Verhältnis zwischen Staat und Religion, die Beziehungen zwischen der säkularen Mehrheit und der ultra-orthodoxen Minderheit in der Armee … all diese Dinge werden jetzt diskutiert“, sagt Persico. Die Mehrheit der jungen Ultraorthodoxen dient nicht in der Armee, was immer wieder für grundlegende Diskussionen sorgt.

Die linke Perspektive

In einem Café in Tel Aviv-Jaffa diskutiert die Studentin und Aktivistin Roni Amir mit ihrer Freundin Nili Rozen über die Proteste und die Zukunft Israels. Der 24-Jährigen ist es wichtig, jede Woche auf eine der Demonstrationen zu gehen. Vor allem will sie das Ende der israelischen Besatzung.

„Auf den Demonstrationen gehöre ich zu dem Teil der Protestierenden, den wir den ‚Anti-Besatzungsblock‘ nennen. In der Besatzung sehen wir den Grund für all das, was gerade passiert. Wir wollen darüber hinaus eine wirkliche Demokratie, ein Land, das sich nicht über Nationalität und Religion definiert.“ Sie fordert eine Ein-Staaten-Lösung, in der die Palästinenser Bürger mit gleichen Rechten werden.

 

Israel | Justizreform | Nili und RoniRoni Amir (rechts) und Nili Rozen (links) gehen auch auf die Demos. Sie wollen aber auch ein Ende der israelischen Militärbesatzung.

Beide finden auch, dass Israel Themen wie Bildung oder die hohen Lebenshaltungskosten vernachlässigt. „Wir sind immer nur mit Sicherheitsfragen wie unserer Lage im Nahen Osten beschäftigt“, sagt Amir. Dabei macht ihr auch die derzeitige Atmosphäre im Land zu schaffen. „Wenn man als Aktivistin versucht, Palästinensern zu helfen, wird man wie eine Verräterin behandelt, statt zu sagen: ‚Es ist doch gut, dass sich jemand für andere engagiert.'“

Die Sicht der beiden auf den israelisch-palästinensischen Konflikt ist derzeit nicht gerade populär – zumindest nicht unter den jungen jüdischen Israelis, die den Friedensprozess der 1990er-Jahre nicht miterlebt haben. Das Osloer Friedensabkommen gab zumindest für kurze Zeit die Hoffnung, dass sich Israelis und Palästinenser auf dem Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung befinden.

Jugend ist eher rechts-konservativ

Tomer Persico zufolge verfügt das linke israelische Lager heute über wenig ideologischen Einfluss. „Sicherlich ist der Kampf um ein Ende der Besatzung, der früher von Gruppen wie Schalom Achschav (Peace Now) angeführt wurde, heute viel schwächer. Heute herrscht eine Art von Konsens in Israel darüber, dass man im Hinblick darauf derzeit nichts machen kann. Es gibt keinen wirklichen Partner auf der [palästinensischen – Anmerkung der Redaktion] Seite.“

Laut dem Israeli Democracy Index von 2022 bezeichnen sich bis zu 75 Prozent der jüdischen Israelis zwischen 18 und 34 Jahren als „rechts-konservativ“. Ein Trend, der sich erst in den vergangenen zehn Jahren entwickelt hat – auch wenn es laut Experten viele verschiedene Gründe dafür gibt.

Ein Teil der heute jungen Israelis ist unter dem Eindruck der zweiten palästinensischen Intifada aufgewachsen, die das Land von 2000 bis 2005 in Atem hielt. Auch die verschiedenen Gaza-Kriege und die Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen haben diese Generation geprägt. Hinzu kommt, dass sich junge Menschen zunehmend als religiös identifizieren oder aus einer der eher konservativen, ultra-orthodoxen Familien stammen.

Der Trend spiegelte sich zum Teil auch in der letzten Wahl wider, als das rechtsextreme Parteienbündnis „Religiöser Zionismus“ 14 der 120 Sitze im israelischen Parlament, der Knesset, erringen konnte. Ihre extremistischen Parteichefs sind jetzt Minister in der Koalitionsregierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Diese seien „ideologisch sehr engagiert“, sagt Tomer Persico. „Sie haben sich ein sehr klares Ziel gesetzt. Und junge Leute fühlen sich von dieser Art von Entschlossenheit, die sie anderswo nicht finden, angezogen“.

Die rechte Perspektive

Es sind Leute wie Naor Meningher. Der 34-jährige Medienschaffende aus Tel Aviv ist enttäuscht von den Protesten und hofft, dass zumindest ein Teil der Justizreform umgesetzt wird. „Vor vier Monaten hatten wir eine Wahl. Und die Resultate kann man nicht verneinen. Die Regierung hat ein sehr klares Mandat von den Menschen bekommen, um zu handeln“, sagt Meningher.

Naor Meningher sitzt auf einem Sofa in seiner Wohnung inTel AvivNaor Meningher aus Tel Aviv verteidigt die geplante Justizreform

Israel sei das einzige Land, das Juden Sicherheit bieten könne. „Meine Großeltern kamen in den 1970er Jahren aus Rumänien hierher. Sie flohen vor einer rücksichtslosen, kommunistischen Diktatur und fanden hier eine Zuflucht. Ich denke nicht, dass Juden eine Alternative haben. Für mich ist dies mein Zuhause, und das wird auch immer so bleiben.“

Im palästinensisch-israelischen Konflikt sieht Meningher momentan keine Lösung. „Ich denke, das beste wäre, den Status Quo zu erhalten, den wir jetzt haben und zu annektieren, was wir annektieren können, vor allem die am wenigsten besiedelten Gebiete“, sagt er mit Blick auf das besetzte Westjordanland. „Palästinenser sind meine Feinde. Ich habe null Interesse daran, dass sie einen eigenen souveränen Staat bekommen“, sagt er.

„Wir müssen optimistisch bleiben“

Genau diese Sichtweise macht Yehudit Elkana Sorgen. Auf der Demonstration gegen die Justizreform in Jerusalem protestiert sie inmitten einer Gruppe von Gegnern der israelischen Besatzung. „Gleich nach 1967 bin ich in die Jerusalemer Altstadt gegangen, um mir alles anzuschauen”, erinnert sie sich. Ost-Jerusalem wurde bis zum Sechstagekrieg 1967 von Jordanien kontrolliert, dann aber von Israel erobert und besetzt. „Schon damals war mir klar, das Westjordanland sollte irgendwann zurückgegeben werden.“

Israel | Proteste gegen die JustizreformDemonstration gegen die Justizreform in Jerusalem im April 2023.

Dennoch liege der Fokus zunächst einmal auf dem Protest gegen die Justizreform. Elkana zählt auch auf die junge Generation, um Lösungen für die vielen Herausforderungen zu finden. „Wir müssen optimistisch bleiben, trotz der pessimistischen Stimmung. Wir müssen tun, was wir können.“

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