Paul ist 19, kommt aus Berlin und hat vor einem knappen Jahr sein Abitur gemacht. An die letzten Schuljahre hat er keine guten Erinnerungen. „Wegen Corona war doch ständig Lockdown. Wochenlang keine Schule und auch sonst sollte man nur zu Hause bleiben.“ Sich mit Freunden treffen, durch die Gegend ziehen, Partys feiern, zum Sport gehen – vieles von dem, was für Jugendliche auch in Deutschland wichtig und selbstverständlich ist, war lange tabu.
„Das Einzige, was man machen konnte, war in seinem Zimmer am Computer oder am Smartphone Spiele zocken und mit den anderen über Social Media schreiben“, sagt Paul, der froh ist, dass die Einschränkungen inzwischen ein Ende haben. Für den 19-Jährigen sind die vielen Stunden am Computer nur noch eine ungute Erinnerung, er tummelt sich längst wieder in der realen Welt. Andere sind im virtuellen Kosmos steckengeblieben.
„Erschreckende“ Zahlen
Laut einer Langzeitstudie, die das Hamburger Universitätsklinikum UKE zusammen mit der Krankenkasse DAK-Gesundheit durchgeführt hat, hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die krankhaft abhängig von Gaming und Social Media sind, seit 2019 verdoppelt. Rund 680.000 Heranwachsende zocken, chatten, posten oder streamen täglich fast fünf Stunden.
Von „erschreckenden Ergebnissen“ spricht Andreas Storm, der Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit. „Die Hoffnung, dass ein Anstieg der Nutzungszeiten und des Suchtgeschehens der vergangenen Jahre abgebremst wird, hat sich leider nicht erfüllt.“
Eimer statt Toilette
Welche Folgen das hat, erlebt der Diplom-Psychologe Kai Müller täglich. Er ist Vorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit und arbeitet in der Ambulanz für Spielsucht an der Uni-Klinik in Mainz. Hier melden sich verzweifelte Eltern, die nicht mehr weiterwissen, weil ihre Kinder jede freie Minute am Computer oder Handy verbringen.
Junge Menschen, die schulische und familiäre Verpflichtungen vernachlässigen, sich widersetzen, wenn sie vom Bildschirm getrennt werden und darauf mit Unruhe, starker Wut und Unverständnis reagieren. Die sich in ihren Zimmern verschanzen, nicht mehr zugänglich sind und keine Hobbys oder Interessen mehr haben. Die in extremen Fällen vergessen zu essen und sich einen Eimer ins Zimmer stellen, damit sie nicht zur Toilette gehen müssen.
Emotionale Bindung
Psychologe Müller macht deutlich, dass die Pandemie für Heranwachsende besonders belastend war, die psychisch verletzlicher sind als Erwachsene. Der Konsum von Spielen, Videos und sozialen Medien sei oftmals ein „Seelentröster“ gewesen.
„Wenn Medien einen in einer Phase von Ängsten, von Enttäuschung, von Selbstzweifeln abholen, dann kann so eine Art, wie wir in der Psychologie sagen, emotionale Konditionierung stattfinden.“ Eine Bindung werde erzeugt und die leiste natürlich Vorschub, daran auch hängen zu bleiben.
Totaler Kontrollverlust
Seit Anfang 2022 ist die Computerspielesucht von der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, als eigenständige Diagnose anerkannt. Psychologe Kai Müller nennt drei Hauptkriterien, nach denen diagnostiziert wird. Zum einen ist es der „Kontrollverlust“, also nicht mehr bewusst frei entscheiden zu können. „Wie viel nutze ich denn, wann nutze ich nicht, wie lange nutze ich und was nutze ich?“
Punkt zwei ist die Priorisierung. Wenn das Spiel oder die Nutzung sozialer Medien nicht mehr nur Bestandteil des Lebens ist, sondern alles dominiert. „Das dritte Kriterium ist, dass die Nutzung fortgeführt wird, obwohl die Betroffenen merken, das führt eigentlich zu Problemen, oder es tut mir nicht gut“, sagt Müller.
Leidensdruck entwickelt sich in der Regel aber erst mit der Zeit. „Wenn Jugendliche sehen, dass der Freundeskreis, der früher auch sehr viel gezockt hat, wenn die sich anderen Lebensbereichen zuwenden: die erste Freundin, der erste Freund oder andere Hobbys, die nichts mit dem Internet zu tun haben, sie selbst aber noch im Spiel feststecken. Das ist dann oftmals so ein interner Auslöser, dass die Betroffenen sagen: ‚Ja, warum passiert das bei mir eigentlich nicht?'“
So melden sich durchaus auch schon 17-Jährige in der Mainzer Spielsucht-Ambulanz und bitten um Hilfe. „Wenn die Betroffenen psychisch, aber auch leistungstechnisch und sozial nicht mehr – das ist jetzt ein kalter Ausdruck – so funktionieren“, berichtet Müller aus der Praxis.
Spielsucht ist das häufigste Problem
Junge Menschen lernen jeden Tag Neues. Nicht nur schulisch, auch menschlich. „Von den Entwicklungsaufgaben gibt es eine ganze Reihe, und bei unseren Patienten, die im jungen Erwachsenenalter zu uns kommen, habe ich ganz häufig den Effekt, dass jemand schon 25 oder 26 biologische Lebensjahre zählt, auf mich aber eher wirkt wie ein 15- oder 16-Jähriger.“
Jungs sind weitaus häufiger süchtig nach Games als Mädchen. Die Abhängigkeit von Social Media betrifft beide Geschlechter, ist in der Suchtambulanz in Mainz aber noch deutlich seltener ein Thema. „Die Nutzung von sozialen Netzwerken gehört gesellschaftlich heute dazu, das ist in den Köpfen drin“, so Müller, der in diesem Bereich von „einer hohen Dunkelziffer“ bei den Suchtkranken ausgeht.
Das Bundesgesundheitsministerium hat Aufklärungskampagnen in Auftrag gegeben, die explizit auf die exzessive Nutzung von sozialen Medien abzielen. Müller berichtet von einem Forschungsprojekt, mit dem weitere Behandlungswege erarbeitet werden sollen.
Lebenslange Sucht
In jedem Fall gilt, dass die Sucht umso besser therapiert werden kann, je früher Ärzte und Psychologen eingreifen können und bevor sie chronisch wird. „Also wir haben auch Patienten, die im Jugendalter schon eindeutig Suchtsymptome hatten, die dann als junge Erwachsene zum ersten Mal in die Behandlung kamen, zum Teil auch stationär behandelt wurden und die dann trotzdem auch im Alter von 30 Jahren oder älter sich immer noch erneut vorstellen, weil es einfach nicht mehr weggeht.“
Einen Therapieplatz zu bekommen, wird allerdings immer schwerer. In der Mainzer Ambulanz liegen drei Monate zwischen der telefonischen Anmeldung und einem ersten Gesprächstermin mit einem Psychologen. Früher seien es zwei Wochen gewesen, sagt Müller. „Wir sind weit davon entfernt, eine ausreichende Versorgungslage zu haben.“ Auf einen Therapieplatz warten Patienten inzwischen ein halbes Jahr.
Mehr Prävention, mehr Hilfe
Präventions- und Hilfsangebote müssten ausgebaut werden, fordert auch der Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit, Andreas Storm. „Wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird, rutschen immer mehr Kinder und Jugendliche in die Mediensucht und der negative Trend kann nicht mehr gestoppt werden.“
Storm sieht die Politik, aber auch die Gesellschaft in der Pflicht. „Kinder und Jugendliche müssen lernen, die Risiken der Nutzung digitaler Medien einschätzen zu können und ihr Nutzungsverhalten zu reflektieren, damit sie die Möglichkeiten der digitalen Welt langfristig für ihr privates und berufliches Leben konstruktiv nutzen können.“
Psychologen sehen darin auch einen Auftrag für die Eltern, die gerade bei jüngeren Kindern konsequent Grenzen bei der Nutzung digitaler Unterhaltungsangebote setzen müssten. Denn eins ist klar: Computer und Smartphone sind allgegenwärtig und aus der modernen Welt nicht mehr wegzudenken. Während bei Alkohol- oder Nikotinsucht Abstinenz möglich ist, ist bei einer digitalen Sucht der Rückfall immer nur einen Klick entfernt.