Es war ein Besuch, der alle überraschte: Kurz vor dem Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine reiste US-Präsident Joe Biden in die Hauptstadt des kriegsgebeutelten Landes. Allein schon die Vorbereitung dieses Kurztrips nach Kiew dürfte allen Sicherheitskräften Schweißperlen auf die Stirn getrieben haben. Unter strengster Geheimhaltung wurde Biden in einer Air Force C-32 nach Europa geflogen, mit ausgeschaltetem Transponder ging es bis nach Polen. Dort stieg der US-Präsident in einen ukrainischen Reisezug, der ihn binnen acht Stunden nach Kiew brachte.
Monatelang war Bidens Besuch von Sicherheitsleuten akribisch vorbereitet worden. Diese konnten sich dabei auch auf Erkenntnisse anderer Politikerreisen aus den vergangenen zwölf Monaten stützen. Denn Joe Biden ist zwar der hochrangigste, beileibe aber nicht der einzige Politiker, der seit Beginn des russischen Angriffskrieges die Reise nach Kiew auf sich genommen hat.
Erste Initiative aus Osteuropa
Es ist Dienstag, der 15. März 2022: Seit drei Wochen tobt der Krieg in der Ukraine, russische Truppen sind bis auf wenige Kilometer an die Hauptstadt herangerückt, versuchen von Norden und Westen aus, die Kiewer Verteidigungslinien zu durchbrechen. Noch am Morgen wird die ukrainische Hauptstadt von schweren Raketenangriffen erschüttert. Kiew droht, von mehreren Seiten eingekesselt zu werden.
Und dann die Nachricht: Gleich mehrere EU-Regierungschefs sind per Zug zu einem Überraschungsbesuch nach Kiew gereist. Der polnische Premier Mateusz Morawiecki mit seinem Parteichef Jaroslaw Kaczynski sowie seine slowenischen und tschechischen Amtskollegen Janez Jansa und Petr Fiala trafen sich mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Bunker unter dessen Amtssitz. Das Bild mit den Politikern, die sich auf dem Weg zu ihm über eine Karte der Ukraine beugen, ging damals um die Welt.
Auftakt für die „Schienendiplomatie“
Auch die aufsehenerregende Reise der vier Spitzenpolitiker hatte unter strengster Geheimhaltung stattfinden müssen. Zu groß war die Gefahr, Opfer eines russischen Angriffes zu werden. Auch wenn die russischen Truppen sich mittlerweile aus dem Großraum Kiew zurückgezogen haben: Eine andere Art als mit dem Zug in die ukrainische Hauptstadt zu reisen, ist bis heute kaum möglich. Seit Kriegsausbruch ist der gesamte Luftraum über der Ukraine gesperrt. Viele Zufahrtstraßen sind nach teils heftigen Kämpfen noch immer nur unter Mühen passierbar.
Und so entwickelte sich die Eisenbahn zu dem Transportmittel, das Spitzenpolitiker aus aller Welt nach Kiew bringt. Den vier Osteuropäern folgten unter anderem schon EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel, die Regierungschefs Olaf Scholz, Boris Johnson und Emmanuel Macron sowie die US-Minister Antony Blinken und Lloyd Austin. Nun also kam auch US-Präsident Biden.
Kiew: Reise mit Risiko
Zwar haben sich die Kämpfe mittlerweile hauptsächlich in den Osten des Landes verlagert; dennoch ist eine Reise mit dem Zug nach Kiew auch heute noch nicht ungefährlich. Das zeigte sich unter anderem auch, als Joe Biden und sein ukrainischer Amtskollege Selenskyj in der Hauptstadt eine ukrainisch-orthodoxe Kirche besuchten und plötzlich Luftalarm ertönte. Auch Gleise, Brücken und Provinzbahnhöfe im ganzen Land wurden in den vergangenen Monaten immer wieder von russischen Raketen beschossen, insbesondere um Waffenlieferungen in die Ostukraine zu unterbinden.
Startpunkt ist meist einer der kleinen Grenzbahnhöfe in Polen. Joe Biden etwa begann seine Zugfahrt im südostpolnischen Przemysl, rund 13 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Rund acht bis neun Stunden dauert die Reise von dort aus. Begleitet werden die Politikerdelegationen meist sowohl von ukrainischen Sicherheitsleuten als auch von Personenschützern der jeweiligen Staatsgäste.
Dabei ist strengste Geheimhaltung das oberste Gebot. Über die Biden-Reise wurde Moskau erst im allerletzten Moment informiert. Schon der Besuch von US-Außenminister Blinken und Verteidigungsminister Austin im April 2022 war erst im Nachhinein publik gemacht worden – aus Sorge vor einem möglichen russischen Raketenangriff.
Den Sicherheitskräften dürfte daher auch durchaus mulmig zumute gewesen sein, als Polens Premier Morawiecki im März 2022 seine Reisepläne noch auf dem Hinweg nach Kiew per Facebook-Post bekanntgab. Als „wichtig für uns, aber auch ziemlich naiv“ bezeichnete der Chef der ukrainischen Eisenbahngesellschaft, Oleksandr Kamischyn, dies später gegenüber CNN. Er selbst lebt und arbeitet seit Kriegsbeginn in einem mobilen Einsatzwaggon der ukrainischen Eisenbahn, der aus Sorge vor einem russischen Raketenangriff ständig seinen Standort wechselt. Selbst seinen Kindern rate er, ihren Standort nicht preiszugeben – schließlich sei man im Krieg. „Nur: Premierministern kann ich keine Anweisungen geben“, so Kamischyn.
EU-Kommissionspräsidentinnen offenbar genauso wenig: Auch Ursula von der Leyen kündigte ihren Besuch in Kiew im Vorhinein per Twitter an – am selben Tag, an dem bei einem russischen Raketenangriff auf den Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk mehr als 50 Menschen getötet wurden. Bei ihr wurde auch der Startpunkt der Reise frühzeitig bekannt: es war derselbe Bahnhof in Przemysl, von dem auch Biden seine Zugfahrt startete.
Der fast zeitgleich stattfindende Besuch von Boris Johnson bei Wolodymyr Selenskyj war Wochen im Voraus geplant gewesen, musste aber wegen Sicherheitsbedenken immer wieder verschoben werden. Auch er sollte eigentlich erst nach Abschluss der Reise an die Öffentlichkeit dringen. Dieses Mal war es jedoch ausgerechnet die ukrainische Botschaft in London, die noch während Johnsons Aufenthalt in Kiew ein Foto der beiden twitterte und Johnsons Besuch so öffentlich machte.
Luxus im Liegewagen
Doch auch ohne solche Indiskretionen kann die ukrainische Eisenbahngesellschaft das Risiko von Raketenangriffen nicht gänzlich eindämmen; ansonsten aber versucht sie, es den Staatsgästen auf ihrer Reise so angenehm wie möglich zu machen. Einem Bericht von Radio Free Europe zufolge kommt dafür unter anderem ein Luxuswaggon zum Einsatz, der eigentlich 2014 zu dem Zwecke gebaut worden war, wohlhabende Touristen auf die Krim zu bringen. Bis zur russischen Annexion der Halbinsel noch im selben Jahr war dieser Waggon wohl nur wenige Male im Einsatz. Andere ukrainische Luxuswaggons stammen noch aus Sowjetzeiten, wurden aber vor einigen Jahren modernisiert. Sie verfügen etwa über geräumige Kingsize-Betten, einen Speise- und Besprechungsraum mit Polstersitzen und Flachbildschirm sowie Rückzugsräume mit Schreibtisch und Ledersessel. Auch Joe Biden dürfte einen solchen Reisezug zur Verfügung gestellt bekommen haben.
Für nicht ganz so hochrangige Staatsgäste geht es auch eine Nummer kleiner: Der deutsche Oppositionschef Friedrich Merz etwa reiste im Mai 2022 im Schlafwagen erster Klasse nach Kiew: mit schmalem Bett und kleinem Ausklappschreibtisch, damit aber immer noch deutlich bequemer als Reisende zweiter Klasse, die oft in noch nicht modernisierten Wagons auf besseren Holzpritschen nächtigen müssen.
Viel Zeit bleibt den Staatsgästen in Kiew im Übrigen nicht. Einige Stunden Aufenthalt, Gespräche mit Präsident Selenskyj, ein Rundgang durch die kriegszerstörten Vororte, vielleicht noch ein gemeinsames Abendessen. Von Boris Johnson wurde bekannt, dass er in Kiew eine Hühnersuppe und einen Salat mit Ziegenkäse bekam, dazu Roastbeef und Kirschknödel. Kurz darauf ist die Stippvisite auch schon wieder vorbei. Was bleibt ist die Symbolik, sind Bilder und Gesten der Solidarität sowie die Versicherung, fest an der Seite der Ukraine zu stehen. Die innige Umarmung von Biden und Selenskyj mitten in Kiew war sicher als eines dieser starken Zeichen auch in Richtung Moskau gedacht. Dann geht es für die ausländischen Gäste auch schon wieder zurück; acht, neun Stunden lang, im Luxuswaggon durch ein vom Krieg zerrissenes Land.