Wenn ein Besuch in Auschwitz das Leid vermittelt

Von | 27. Januar 2024

„Ich wollte diese Reise unbedingt mitmachen.“ Cara ist 17 Jahre alt, Schülerin aus Kerpen bei Köln. In dieser Woche ist sie mit Gleichaltrigen aus ihrer Schule in Oswiecim in Polen, in der Gedenkstätte des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Es ist ein Ort des Grauens. 

„Dort durch das Lager zu gehen“, sagt Cara nachdenklich ruhig, „und dann das Gefühl zu bekommen, dass an der gleichen Stelle vor 80 Jahren die Menschen standen, die dort inhaftiert waren, die so schrecklich behandelt wurden.“ Mit anderen Schülerinnen und Schülern gemeinsam berichtet sie im Gespräch der DW.

Das schlimmste KZ

Die Schüler besuchen die Willy-Brandt-Gesamtschule in Kerpen bei Köln – die 67.000-Einwohner-Stadt hat seit 1967 eine Städtepartnerschaft mit dem polnischen Oswiecim westlich von Krakau. Am Rande von Oswiecim liegt der Gedenkort für das größte, das schlimmste KZ der NS-Zeit. Hier ermordeten die Deutschen in den Jahren bis 1945 weit über eine Million Menschen, überwiegend Jüdinnen und Juden. Auschwitz steht für die systematische Vernichtung von Menschen.

Ein Zaun und Wachtürme im Gelände des ehemaligen deutschen KZ
In der Gedenkstätte Auschwitz Bild: Friso Gentsch/dpa/picture alliance

Mit 17 oder 18 Jahren an den Ort dieses Menschheitsverbrechens. Cara und Elias, Tamara und Esther, die die zwölfte Klasse der Schule besuchen, bereiteten sich mit rund 20 Mitschülern seit Herbst vorigen Jahres auf den knapp einwöchigen Aufenthalt in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/Auschwitz vor. 

„Die Teilnahme ist freiwillig. Man bewirbt sich für dieses Projekt, und dann muss manchmal sogar ausgewählt werden“, erläutert die Kerpener Lehrerin Katrin Kuznik, die bereits mehrfach solche Reisen organisierte. Es sei für die Lehrperson „eine Herausforderung“. Aber die Kinder seien engagiert vorbereitet, „dem Ort aussetzbar“ und könnten die Erlebnisse auch ganz gut verarbeiten, auch im Gruppengespräch. „Es ist“, sagt die Lehrerin, „eine riesige Verantwortung für die Begleitung. Aber bisher hat es immer gut funktioniert.“

Deutschland, der Rechtsextremismus, das Gedenken

Deutschland und die Verbrechen des Nationalsozialismus, der millionenfache Mord an Juden im Holocaust, die Verfolgung und Tötung von Roma und Sinti, Homosexuellen, politisch Andersdenkenden, mutigen Kirchenleuten, Zivilisten. Knapp 80 Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zeigt sich das Land verunsichert angesichts rechtsextremer Kräfte, angesichts des Erstarkens der „Alternative für Deutschland“ (AfD).

Wie hält ein Land die Erinnerung wach? Wo bleibt die stete Mahnung, wenn die Zeitzeugen, die letzten Überlebenden verstummen? Wie pflegt man die Verantwortung über die staatstragenden Reden der offiziellen Gedenktage hinaus?

Die Jewish Claims Conference legte nun einen Bericht vor, wonach weltweit noch 245.000 Opfer des Holocaust leben, 14.200 in Deutschland. Die meisten sind hochbetagt, vielfach pflegebedürftig. Nicht mehr viele von ihnen können öffentlich auftreten. Trotz ihres Alters von 101 Jahren sucht Margot Friedländer immer noch die Öffentlichkeit. Jeder Auftritt der KZ-Überlebenden ist ein großer Moment der Rührung – über ihre Lebenskraft, über ihr Zeugnis, ihre Mahnung. 

Christoph Heubner in Berlin, der in den 1980er Jahren an der Planung für den Bau und das Konzept der Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim beteiligt war, ist seit langem Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK). Wenige kennen so viele Holocaust-Überlebende in Deutschland wie er. Als er beschreibt, wie er die Auftritte der Zeitzeugen in Schulen oder bei Gedenkveranstaltungen erlebt, Auftritte, die die alten Menschen selbst auch aufwühlen und in Erinnerungen treiben, sagt er ein selten gewordenes Wort: „generös“. „Es gibt einen Bereich in ihrem inneren Leben, zu dem wir nicht vordringen, und in dem sie ganz allein sind. Der Verlust der ganzen Familie, der kleinen Schwester, der Eltern… Im Teilen ihrer Schmerzen sind sie generös mit den Menschen, die heute leben.“

„Leitschnur, die Demokratie zu schützen“

Heubner findet es „natürlich traurig, nun viele Menschen zu verlieren“. Gerade in den letzten Jahren sei zu spüren, wie wichtig vielen Menschen in Deutschland, gerade jungen Leuten, das persönliche Gespräch mit den Überlebenden gewesen sei. Auch als Mahnung und „Leitschnur, die Demokratie zu beschützen und zu bewahren“. 

Deutschland Auschwitz Komitee ehrt Pianisten Igor Levit | Christoph Heubner
Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz KomiteesBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Aber im DW-Gespräch zeigt sich Heubner nicht pessimistisch. Er mache sich über die „Nachhaltigkeit dieser ganzen Arbeit eigentlich gar keine großen Gedanken“. Denn eigentlich fange jede Generation und jede Altersgruppe neu an, sich mit dem Thema zu befassen, davon aufgeschreckt zu sein „in einem ganz positiven Sinne, einer emotionalen und einer intellektuellen Reaktion“. Das könne eine künstlerische Auseinandersetzung sein, ein Film, die Lektüre eines Buches, der Besuch einer Gedenkstätte. Jede neue Generation werde ihren Weg finden, sich in diese Menschen- und Menschheitsgeschichten zu vertiefen.

Vor Ort in Auschwitz gehört Manfred Deselaers (68) zu den Gesprächspartnern der jungen Besucher. Der katholische Priester aus Aachen lebt seit über 30 Jahren in Oswiecim. In diesen Tagen erscheint das aus dem Polnischen übersetzte Buch von Piotr Zylka, „Die Wunde von Auschwitz berühren – Ein deutscher Priester erzählt“.

Manfred Deselaers, katholischer Priester aus Aachen, lebt seit über 30 Jahren in Oswiecim
Pfarrer Manfred DeselaersBild: Kyodo/picture alliance

Für Deselaers, der für sein Werk in Polen und Deutschland gleichermaßen geschätzt wird und geehrt wurde, geht es heutzutage beim Besuch der Gedenkstätte „nicht nur um Wissen, sondern um unsere Berufung: Wie sollen wir leben, um Überlebenden mit gutem Gewissen in die Augen schauen zu können?“ Wohl alle Jugendlichen, die nach Auschwitz kämen, sei es aus Deutschland, Polen oder Israel, auch junge Leute mit Migrationshintergrund, spürten, „dass es nicht nur um Trauer über vergangenes Leid und um Totenehrung geht, sondern um einen Ruf in die Verantwortung für unsere gemeinsame Welt“, sagt er der DW. Die Erinnerung bedeute auch: „Das ist geschehen, also war es möglich, also ist es möglich, also kann es wieder geschehen – Auschwitz beschreibt die Dimension unserer Verantwortung.“

Vor Ort in Auschwitz: „Viel tieferes Verständnis“

So nehmen auch die vier Schüler aus Kerpen Auschwitz wahr, diese bedrückende Gedenkstätte. Da ist der Gang in jene Baracke, in denen menschliches Haar oder Brillengestelle mannshoch aufgestapelt sind. Stumme Zeugnisse des Grauens. Elias (18) erläutert pointiert, dass Auschwitz eben kein Museum sei. Ein Museum sei „eher ein Ort für die Augen. Man geht umher, man sieht, man nimmt physisch wahr.“ Auschwitz nehme man auf einer ganz anderen Ebene wahr, „man entwickelt ein viel tieferes Verständnis“. Auschwitz vor Ort zu erleben und die Vorbereitung darauf, „das trägt dazu bei, dass man mit dieser natürlich schwerwiegenden Materie umgehen kann, dass man irgendwie bereichert ist“.

Und Mitschülerin Tamara (18) nennt es „definitiv wichtig“, Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, einen solchen Ort zu besuchen. Es müsse nicht unbedingt Auschwitz sein, aber auf jeden Fall eine Gedenkstätte, ein ehemaliges Lager. Das sei „etwas ganz anderes“ als nur der Geschichtsunterricht.

Eine Verpflichtung zum Besuch einer Gedenkstätte aus der Nazizeit gibt es für Schulen in Deutschland kaum. Gelegentlich kommen von politischer Seite entsprechende Forderungen auf; Experten sind da aber zurückhaltend. Gleichwohl steigt die Zahl der Schulen, die – wie die Willy-Brandt-Gesamtschule in Kerpen – Besuche vorbereiten und durchführen. Die Kultusministerkonferenz (KMK), die die Bildungsminister der deutschen Bundesländer vereint, legte 2014 „Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule“ vor, bei denen Gedenkstätten-Besuche entsprechend eingeordnet werden. Ein Jahr später fragte sie bei den Bundesländern ab: Einen verpflichtenden Besuch gab es da fast nirgends.

Anfang Dezember 2023, zwei Monate nach dem Angriff der radikalislamistischen Hamas, die von Deutschland, der EU und anderen Ländern als Terrororganisation eingestuft wird, auf Israel, äußerte sich die KMK umfassend zu Maßnahmen gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit. Dabei plädierte sie auch für eine stärkere Präsenz jüdischen Lebens und jüdischer Perspektiven – und für die systematische Verankerung der Vermittlung von Kenntnissen zu Antisemitismus, jüdischer Geschichte und Gegenwart.

Besuch in KZ-Gedenkstätten: „Viel wichtiger geworden“

Die Schüler aus Kerpen werden von ihren Eindrücken geprägt ins Rheinland zurückkehren. Ihr sei wichtig, sagt Lehrerin Kuznik, „dass die Eltern genau wie die Schüler sehen, wie wichtig diese Fahrt ist“. Vielleicht hätten sie angesichts der politischen Lage gemerkt, „dass so ein Besuch in der Gedenkstätte noch viel wichtiger geworden ist als vor einigen Jahren“.

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