Im Interview gibt sich Marine Le Pen staatstragend: „Natürlich werde ich am Sonntag beim Marsch gegen Antisemitismus in Paris dabei sein“, kündigt die Fraktionsvorsitzende des extrem rechten Rassemblement National am Mittwochmorgen im Radiosender RTL an. „Unsere jüdischen Mitbürger sind seit langem mit einer Ideologie konfrontiert, die ich immer bekämpft habe: dem Islamismus.“ Doch nicht nur Le Pen wird sich in den Demonstrationszug einreihen, ebenso wollen Parteichef Jordan Bardella und die RN-Abgeordneten der Nationalversammlung an diesem Sonntag in der Hauptstadt Präsenz zeigen.
Auch wenn die Großdemonstration überparteilich sein soll, an der Spitze des Zuges seien die RN-Vertreter unerwünscht, sagte Yaël Braun-Pivet im französischen Rundfunk. Ihre jüdischen Vorfahren waren einst aus Deutschland und Polen nach Frankreich geflohen. Die Präsidentin der Nationalversammlung von der Regierungspartei Renaissance hatte gemeinsam mit Gérard Larcher von den konservativen „Les Républicains“ die Idee zum „Marsch gegen Antisemitismus“. Das Land brauche einen „Aufschrei des Gewissens“, twitterte Larcher, der als Senatspräsident der ranghöchste Vertreter der Opposition im französischen Staat ist.
Partei mit antisemitischen Wurzeln
Die politische Konkurrenz begründet den Ausschluss der RN-Politiker mit der Geschichte der Partei, die 1973 als Front National (FN) von Marine Le Pens Vater Jean-Marie gegründet wurde. Der Algerienkriegsveteran Le Pen hatte den FN als Sammelbecken für ehemalige Vichy-Anhänger, Antisemiten und auch Mitglieder der gewalttätigen Studentengruppe Groupe Union Défense (GUD) gegründet. Der langjährige FN-Vorsitzende bezeichnete die deutschen Gaskammern mehrfach als „Detail“ der Geschichte. „Die französische Justiz hat Jean-Marie Le Pen wegen Antisemitismus verurteilt, insofern hat der RN auf dieser Demonstration nichts zu suchen“, kommentierte Regierungssprecher Olivier Véran die Haltung der Regierung.
In den vergangenen Wochen hat Marine Le Pen jedoch in der Öffentlichkeit keinen Zweifel daran gelassen, auf wessen Seite sie im aktuellen Konflikt steht. Den Terrorangriff der Hamas auf Israel bezeichnete sie als „Pogrom“ und stellte sich hinter das Ziel der israelischen Regierung, die Hamas, die von zahlreichen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, zu vernichten.
Glaubwürdiger Kampf gegen Antisemitismus?
Die pro-israelische Positionierung ist bei RN nicht neu. Nachdem Marine 2011 ihren Vater an der Parteispitze abgelöst hatte, warf sie bekannte Antisemiten aus der Partei – am Ende sogar ihren Vater selbst. Die nach außen betriebene „Entdämonisierung“ soll die Partei für breitere Bevölkerungsschichten wählbar machen. Bei Präsidentschaftswahlen konnte die Politikerin daraufhin ihren Stimmenanteil kontinuierlich steigern. Aktuellen Umfragen zufolge würde sie derzeit mit über 30 Prozent die erste Runde der Präsidentschaftswahlen mit großem Abstand gewinnen.
Und doch gibt es Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses Imagewandels. „Für mich ist Le Pens Teilnahme an dieser Demonstration strategisch motiviert. Ich glaube nicht, dass sich die Partei in ihren Grundfesten verändert hat. Die Nähe zu Israel und der Kampf gegen Antisemitismus dienen nicht zuletzt dazu, klare Kante zu zeigen und zu demonstrieren: Unser Hauptfeind bleibt der Islam“, analysiert Valérie Dubslaff von der Universität Rennes, die zur extremen Rechten forscht. Tatsächlich kommt es in der Partei immer wieder zu irritierenden Äußerungen, wie vor wenigen Tagen durch Parteichef Bardella, der sich in einem Interview weigerte, den Parteigründer Jean-Marie Le Pen als Antisemiten zu bezeichnen. Wohl auch auf Druck von Marine Le Pen musste er sich wenig später korrigieren.
Unterstützung von Nazi-Jäger Klarsfeld
Der von Le Pen forcierte Kurswechsel zeigt auch in der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs Wirkung. Die jahrzehntelange Feindschaft zwischen Juden und RN-Politikern weicht auf. Louis Aliot, RN-Bürgermeister von Perpignan, wurde vor einem Jahr als erster RN-Politiker zu einem Interview beim jüdischen „Radio J“ in Paris eingeladen. Wenige Tage zuvor hatte der Politiker, dessen Großvater Jude in Algerien war, dem Nazi-Jäger Serge Klarsfeld die Ehrenmedaille der Stadt Perpignan verliehen. Dass der heute 88-Jährige diese Auszeichnung annahm, stieß damals auf großes Unverständnis – auch bei jüdischen Historikern.
Klarsfeld, der auch Vorsitzender der Organisation „Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs“ ist, unterstützt die geplante Teilnahme Le Pens an der Großdemonstration am Sonntag. „Für mich ist die DNA der extremen Rechten der Antisemitismus. Wenn ich also sehe, dass eine große Partei, die aus der extremen Rechten hervorgegangen ist, dem Antisemitismus und der Holocaustleugnung abschwört und in Richtung republikanischer Werte marschiert, dann begrüße ich das“, sagte Klarsfeld in einem Zeitungsinterview.
Instrumentalisierung des Marsches?
Auch der jüdische Dachverband CRIF hat seine Haltung angepasst. Als Marine Le Pen im März 2018 bei einer Gedenkveranstaltung für die ermordete Jüdin Mireille Knoll auftrat, wurde sie noch ausgebuht. Die Teilnahme von RN-Politikern an einer Demonstration zur Unterstützung Israels, die vom CRIF organisiert wurde, verlief unlängst ohne Zwischenfälle.
Bei der Demonstration am Sonntag ist Le Pen aus Sicht des CRIF dennoch unerwünscht. „Wir wollen nicht, dass Personen anwesend sind, die Erben einer Partei sind, die von ehemaligen Kollaborateuren gegründet wurde“, sagt CRIF-Präsident Yonathan Arfi. Der Verbandschef beklagte „eine Form der Instrumentalisierung dieses Marsches, die unanständig ist“.
Die Abgrenzungsbemühungen haben mittlerweile aber auch Aspekte der Hilflosigkeit. Sozialisten, Kommunisten und Grüne wollen auf der Demonstration einen „republikanischen Cordon“ einrichten, den kein RN-Politiker betreten darf. Mélenchons linkspopulistische Partei La France Insoumise (LFI) lehnt eine Teilnahme an der Demonstration sogar ganz ab – allerdings nicht nur aus Protest gegen Le Pen. „Die Freunde der bedingungslosen Unterstützung des Massakers haben ihr Rendezvous“, kommentierte Mélenchon die Demo auf X mit Hinweis auf Israels Krieg gegen die Hamas. Die Führungsfigur des Linksbündnisses Nupes schielt offenbar auf das muslimische Wählerpotential und hat bis heute darauf verzichtet, den Terrorangriff der Hamas klar zu verurteilen.
Zukunft der „Brandmauer“
Für Jacob Ross, Frankreich-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, zeigt die aktuelle Debatte die Grenzen des Brandmauer-Konzepts in Frankreich. Angesichts zahlreicher Bürgermeisterposten für die RN sei die Ausgrenzung auf kommunaler Ebene in der Praxis ohnehin bereits ad acta gelegt. „Sie wird nun vor allem bei nationalen Wahlen beschworen.“
Neuere Untersuchungen hätten gezeigt, dass der „republikanische Block“, also das Bündnis aller anderen Parteien gegen die RN, die Wähler in Frankreich zunehmend ermüde. Die Franzosen wollten nicht mehr vorgeschrieben bekommen, wen sie nicht wählen dürften. In der parlamentarischen Ausschussarbeit, so Ross, fänden zudem die Positionen des RN vor allem bei den konservativen „Les Républicains“ immer mehr Unterstützung. Für Marine Le Pen läuft es – zumindest derzeit – also nach Plan.